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Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe
Autoren: Martin Walser
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sie  habe  sich  doch  auch  darüber  gefreut,  daß  Wendelin  Krall  noch  so  schöne  Wirkungen  zeitige.  Von  seinen  Pseudonymen  sei  ihr  Wendelin  Krall  immer  das  liebste  gewesen.  Das  sei  doch  einfach ein lieber Name. Wendelin Krall. Er nickte. Verbarg,  daß  er  staunte.  Berührte  sie  leicht  an  der  Schulter.  Dann  hörte er sich sagen, er müsse noch wegfahren, heute. Wohin,  fragte  sie.  Er  komme  ja  gleich  wieder,  sagte  er.  Er  holte  seinen  Autoschlüssel,  gab  sich  eilig,  fuhr  ab.  Nur  nichts  sagen  müssen  jetzt.  Daß  das  erwartet,  ja  verlangt  werden  kann,  immer  alles  sagen!  Das  ist  doch  Seelenmord.  Er  will  doch selbst nicht wissen, wie es in ihm momentan aussieht.  Und  dann  soll  er  es  Anna  so  sagen,  daß  sie  es  nicht  nur  versteht, sondern auch noch billigt! Ohne zu lügen nicht zu  machen. Und lügen in Gottliebs Alter − das war Seelenselbst mord.  Er  war  sich  im  Augenblick  nur  erträglich,  wenn  er  nichts  sagen  mußte.  Einfach  nur  tun,  was  er  mußte.  Aber  nichts sagen, nichts erklären. Jetzt fuhr er also offenbar nach  Langenargen.  Und  durch  Langenargen,  bis  zur  Uferstraße.  Eine Großtante, die im Mercedes zur Bridgepartie nach Bad  Schachen  fährt,  haust  nicht  in  einer  Zweizimmerwohnung.  In der Gegend der Villen hatte Gottlieb, als er noch den Han del besorgte, mehr als ein Haus von innen kennengelernt. 
Eine  Familie  Gutbrod  hatte  nie  zu  seinen  Kunden  gehört,  weder als Käufer noch als Verkäufer. Aber vielleicht hieß die  Großtante gar nicht Gutbrod. Beate Gutbrod. Er konnte sich  nicht vorstellen, die Besucherin je Beate zu nennen. Sie hatte  mit fortschreitendem Calvadoskonsum manchmal von ame rikanischen  Gewohnheiten  Gebrauch  gemacht  und  ihn  Wendelin  genannt.  Immer  eingebettet  in  Sätze.  Nie  am  Anfang oder am Ende eines Satzes. Immer deutlich in ameri kanischer  Routine,  also  ohne  privaten  Anteil.  Beate?  Ob  er  diesen  Namen  erlernen  könnte?  Jetzt  spielte  er  den,  der  die  Uferstraße  auf  und  ab  schlendert.  Der  schwarze  Mercedes  mußte  inzwischen  in  Bad  Schachen  stehen.  Auf  keinem  Schild  der  Name  Gutbrod.  Er  hätte  im  Telephonbuch  nach  dem  Namen  suchen  sollen.  Anrufen.  Was  dann  sagen?  Vielleicht war der Großonkel am Apparat. Die Welt war eine  Verschwörung.  Alles  setzte  sich  durch  gegen  ihn.  Er  durfte  nichts unternehmen, sich durchzusetzen. Was er wollte, war  so  wenig  möglich,  so  wenig  erlaubt,  daß  er  nicht  den  geringsten  Versuch machen  durfte,  seinen Willen  durchzu   
setzen. Bitte, was wollte er denn? Schon das zu formulieren  war unmöglich. 
Das  einzige,  was  ihn  jetzt  sich  selber  fühlbar  machte,  war  seine Einsamkeit. Niemand wußte in diesem Augenblick, wo  er war, was er dachte. Was er wollte, wußte er nicht einmal  selbst.  Es  mußte  ja  etwas  sein,  was  er  wollen  konnte.  Beate  Gutbrod am Telephon, wollte er das? Die einzige Frage, die  er  stellen  müßte,  wäre:  Sind  es  tatsächlich  vierzig  Jahre?  Schon  achtunddreißig  wäre  eine  Zahl,  die  er  gern  nachge betet hätte. Nur nicht vierzig, bitte. Anna hatte instinktiv die  unangenehmste Zahl genannt. Vierzig Jahre, das konnte man  wirklich  auf  sich  beruhen  lassen.  Aber  Beate  Gutbrod  lehrt  immerhin  schon.  Teaching  Assistant.  Und  Beate  Gutbrod  war  keineswegs  die  jedes  Problem  frontal  angehende  Intellektuelle.  Sie  erlebte  jede  Frage,  bevor  sie  sie  löste.  Sie  rief alles, was sie im Computer hatte, auf und herbei und ließ  es  vor  Gottlieb  paradieren.  Der  staunte.  Den  250.  Todestag  des  frechen  Genies  hatte  sie  also  zum  Prüfdatum  ernannt.  Immerhin konnte sie ausgehen von der Gedächtnisrede, die  der Große Friedrich auf La Mettrie verfaßt hatte und in der  Akademie  der  Wissenschaften  verlesen  ließ. 
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