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Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe
Autoren: Martin Walser
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konnte. Daß er in jedem Augenblick bereit sein mußte, eine  Frage  Annas  zu  beantworten,  wurde  zu  einer  Qual.  Es  gab  keine  Schlüssel  für  die  Türen  innerhalb  des  Hauses.  Und  wenn  es  sie  gab,  hatte  sie  Anna.  Er  konnte  nur  so  nah  am  Telephon  sitzen,  daß  er,  wenn  Beate  Gutbrod  anrief,  den  Hörer  abnahm,  bevor  Anna  ihn  abnehmen  konnte.  In  der  Zeit  bis  zu  Beate  Gutbrods  Anruf  konnte  er  eine  Art  Verzichtstraining veranstalten. Zum Schein. Er wußte, daß es  für  dieses  Training  zu  spät  war,  aber  so  tun,  als  sei  er  an  einer  Verzichtsleistung  interessiert,  das  müßte  doch  gelin gen.  Vielleicht  konnte  er  sich  sogar  hereinlegen.  So  tun,  als  spiele  er  das  Verzichtstraining  nur  durch,  um  sich  etwas  vorzumachen,  und  dann  gelingt  doch  irgendetwas  irgend wie, ein Schnitt, ein Schlag, eine erlösende Gewalt. Zuerst ein  wenig Calvados. 
Dann  doch  noch  etwas  mehr.  Zur  Abschaffung  einer  Zu rechnungsfähigkeit,  die  nichts  taugte.  Er  wollte  überhaupt  nichts  wissen  von  sich.  Diese  elende  Masse  Bewußtsein.  Diese  trübsinnige  Seelensauce.  Dieser  Käfig,  der  Biographie  heißt.  Wie  lange  willst  du  dir  noch  gehorchen?  Wem  gehorchst  du  denn  so  unverbrüchlich  wie  noch  nie  jemand  jemandem  gehorcht  hat?  Nicht  einmal  einen  Namen  wagst  du dem Tyrannen in dir zu geben. Nicht rühren darfst du an  deine  Unterworfenheit.  Mut  gibt¹s  an  Tankstellen.  Fahr  hin.  Tanke. Dann  los.  Je  t¹emmenérai au  bout  du  monde.  Ja, richtig.  Nimm den Mund zu voll. Du hältst dieses Dasein, das, bitte,  kein Leben ist, nur aus, wenn du den Mund zu voll nimmst.  Sag  laut  alles  auf  und  hinaus,  was  keine  Zukunft  hat.  Sei  blind und taub, außer für das Unmögliche. 
Als er hörte, daß Anna das Haus verlassen hatte, verführte  er  sich  zu  einem  unernsten  Ausflug  in  die  Selbstbefrie digung.  Nichts  als  eine  Mißhandlung.  Liebe  Besucherin,  warum  rufen  Sie  eigentlich  nicht  an?  Ach  so,  Sie  waren  gar  nicht da. Sie sind eine Einbildung. Ach so. Etwas nimmt zu  in dir, Gottlieb. Fühlt sich ganz schön böse an. Haß? Ach nee.  Wörter,  die  etwas  sagen  wollen,  abwehren.  Du  gehst  mit  dem, was dir passiert ist, um wie mit einer Krankheit. 
Gottlieb hat Angst. Angst vor dem nächsten Gedanken, der  nächsten  Sekunde,  weil  er  weiß,  woran  er  denken  wird,  denken  muß.  Das  ist  Gewalt,  schlimmer  als  jede  materielle,  physische. Schlag oder Stich tut weh, aber auch wenn er sehr  weh  tut,  läßt  er  dann  nach.  Und  wenn  er  dich  wieder  und  wieder trifft und jedes Mal noch weher tut, der Schmerz läßt  nach jedem Schlag oder Stich wieder nach. 
Der Seelenschmerz kann, wenn, was sein Anlaß ist, bleibt,  nur  zunehmen,  du  siehst  seiner  Unerträglichkeit  entgegen.  Du kannst gleich nichts mehr verbergen. Das nennt man das  AUS.  
Wenn  Anna  zurückkommt  und  findet  dich  so,  sieht  sie  sofort, seit wievielen Stunden du reglos hockst, ins Undeut liche  stierst.  Hast  du  je  auf  den  Augenlidern  diese  Schwere  gespürt,  dieses  Gewicht?  Vierzig  Jahre,  liebe  Anna.  Anstatt  daß  das  auf  sich  beruhte,  ruht  es  jetzt  auf  deinem  Mann.  Wiegt ziemlich was. Den Wasserkrug mit der Sonnenblume  hatte Anna auf das Fenstersims gestellt. Warum nicht, dachte  Gottlieb.  Die  Sonnenblume  ist  der  Mittelpunkt,  egal,  wo  sie  hingestellt wird. 
Als er Anna zurückkommen hörte, sprang er auf. 
Komm, Anna, komm. Komm auf die Terrasse, setz dich auf  den Platz, auf den der Besucherin. Gottlieb serviert. Gottliebs  meisterhaftes  Omelette  soufflée.  Mit  Spinat.  Dazu  den  Smaragd  Riesling,  Anna.  Anna  genießt.  Gottlieb  genießt  auch. Seinen Eifer. Er will es Anna recht machen. Anna soll  sich  gerettet  vorkommen.  Nicht  der  Hauch  eines  Harms. 
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