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Der Aufgang Des Abendlandes

Titel: Der Aufgang Des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Bleibtreu
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wir den Metachemiker Crookes. Für ihn sind
Wasser-, Sauer-, Stickstoff keine heilige Dreifaltigkeit, er verleugnet die 64 Elemente für einen Grundstoff, seine
»Genesis der Elemente« predigt, daß Molekülen nicht an und für sich bestehen, sondern, durch
unbekannte Prozesse aufgebaut, nach ihrer Auflösung alle die gleiche Substanz zeigen, wie Silber eines
Fünfschillingsstückes im Schmelztiegel, das darin jede Prägung verliert und doch Silber bleibt. Dies
entspricht dem okkulten Verstehen, daß Kraft und Stoff nur zwei Seiten derselben Erscheinung sind. Die Urquelle bildet
Spiegel aus den Atomen und wirft auf jedes »einen Spiegel des eigenen Angesichts«, d. h. Silberstoff und
individuelle Prägung sind beide nur Abbilder von etwas, was in keinem Schmelztiegel vergeht.
    In veränderte Wahrnehmung jenseits der Bewußtseinsschwelle nehmen Durchschnitts-Iche unverändert sich
selbst hinüber. Ihre Beschränktheit offenbart sich gerade in ihren Hoffnungen, wo man in Walhalla pokuliert,
himmlische Jagdgründe durchstreift, sich der Huris erfreut oder stracks als psalmsingender Engel davonfliegt oder aber
im Grabe traumlos für immer schläft, eins so unmöglich wie das andere. Jedenfalls kann ein Jenseits für
»fleischlich« Gestorbene nichts anderes sein als Kehrseite bisheriger Wahrnehmung in unfleischlicher Umgebung bei
genauer Fortsetzung bisherigen Trachtens. Die von Helmholtz hervorgehobene konstante Arbeitssumme im All bleibt stets an
gleicher Stelle wie das Meer mit Ebbe und Flut, deren Vor- und Rückstoß die Brandungswogen noch immer auf dem
nämlichen Platze läßt. Beständigkeit der Art erlebt auch jenseits keine plötzliche Evolution, sie
vollzieht sich nur im Unsichtbaren durch lange Reihe von Wiedergeburten, die langsam Aufstieg oder Abstieg erzielen unter
Ausgleich hemmender oder fördernder Milieuform. Auch hier »macht die Natur keinen Sprung«, Schulze bleibt
noch lange Schulze, sein Abstand von Leonardo wird durch keine Jenseitigkeit vermindert, der jenseitige Leonardo bleibt ein
Geisterfürst höherer Sphären im gleichen Verhältnis wie er es im Leben war.
     

 
2
    Neueste Fachkunde lehrt, daß Stottern »eine qualvolle Seelenkrankheit«, Sprachfurchtsamkeit, ferner
»Hörstummheit« intellektueller Mangel an Sprachverständnis oder seelischer Gelenkigkeit zur
Sprachbewegung sei. Gibt es deutlicheren Wink, daß Körpervorgänge unkörperlichen Ursprungs sind?
Stottern so wenig ein physischer Zungenfehler, wie geistige Inartikuliertheit einer dummverworrenen Seele! Die Zungenfehler
des Gemüts oder der Denkkraft, die Hörstummheit für das Schöne und Wahre sind völlig analoge
psychische Gebrechen, so auch das Stottern der Menge in Religionssprache. Im christlichen Zeitalter lebte ein
allgegenwärtiger Gott, der junge Schiller jauchzt noch, überm Sternenzelt müsse ein guter Vater wohnen. Je
häufiger aber die zweiten Ursachen als sog. Naturgesetze bekannt wurden, desto ferner verblaßt im menschlichen
Bewußtsein die erste Ursache Gott als schattenhafter konstitutioneller Monarch, dem die Natur eine Verfassung
auferlegte und dem ein Eingreifen in die gesetzgebenden Faktoren nicht zukommt. Sogar Pascal verwarf jede Theodizee und
versteift sich, um die Repräsentativfigur seines Gottkönigs zu retten, ganz wie Kant auf angebliche Erhabenheit
menschlichen Denkens und Fühlens. Jede Ethik, die er bezeichnenderweise Charité nennt, stehe höher als jedes
Wissen, das sei der einzige Gottbeweis. Das ist stets der erste Schritt des Rationalismus, parallel zur Kirchenscholastik,
die alte Einbildung menschlicher Überlegenheit über alle anderen Gebilde, obwohl man vom sittlichen Instinkt der
Tiere gerade genug weiß, um sich für den Menschen schämen zu müssen. Für Pascal sind auch die
Planeten tot und geistlos, in welcher kindlichen Überzeugung Kirche und Wissenschaft sich die Hände reichen, er
zieht wie Kant sittlichen Imperativ nur aus sich selber, ein Seelenprophet nur für bestimmte Seelen wie Madame Guyon.
Wird Sittliches durch Notwendigkeit emporgezüchtet? Kain und Abel leben noch heut nebeneinander, die Raubmörder des
Weltkrieges schliefen gewiß mit gutem Gewissen auf dem besten Ruhekissen ihrer Schandtaten. Gröbste
Selbsttäuschung hält sich für sittlichen Imperativ. Sollten aber die Unsichtbaren mit eisernen Besen über
das Spinngewebe fahren, so würden alle Kreuzspinnen dies für Vergiftung der moralischen Weltordnung erklären.

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