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Der Atem des Rippers (German Edition)

Der Atem des Rippers (German Edition)

Titel: Der Atem des Rippers (German Edition)
Autoren: Martin Clauß
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Messer nicht mehr an seiner Gurgel lag, fühlte Alan sich wieder fähig zum Galgenhumor.
    „Wo ist es?“ Der selbsternannte Magier richtete die Schusswaffe auf den Gefesselten.
    „Ich habe es weggeworfen, während mich Ihre kleine Ratte verfolgte.“
    „Es war nicht mehr dort.“
    „Es ist ziemlich dunkel draußen. Sehen Sie noch einmal genau nach.“
    Stephenson machte einen Satz auf Alan zu und drückte ihm den Lauf der Pistole auf die Wange. Alan gab ein Stöhnen von sich.
    „Es steht nichts in meinem Tagebuch, was einen Verrückten wie Sie interessieren würde“, brachte er hervor. „Wenn ich einen letzten Wunsch habe … würde ich mir wünschen, dass Pater Oustons Grab einen Kranz mit meinem Namen darauf bekommt. Schreiben Sie … Alan Spareborne … oder Leather Apron … Schreiben Sie nicht … Jack the Ripper.“
    In diesem Moment hievte sich Superintendent Arnold mühsam auf die Beine. „Lassen Sie ihn, Stephenson“, krächzte er. „Ich habe noch so viele Fragen an ihn. Ich habe … nichts verstanden, von dem, was in ihm vorging … Bitte, Sie dürfen ihn noch nicht töten, Stephenson …“
    Der Magier schob den Lauf langsam nach oben, bis er an Alans Schläfe lag. Dann drückte er den Abzug.

16
    2. Oktober 1888
    Die Reliquien sind fertig. Der Pater ist noch nicht zurückgekehrt. Dabei kann er die Meldungen unmöglich überhört haben. Hat er Angst vor mir? Wird er mir Scotland Yard schicken und die Kirche ausräuchern lassen wie einen Dachsbau, ehe er sie selbst betritt? Ich kann jeden Augenblick tot sein.
    Stundenlang liege ich auf meinem Bett und starre an die Decke. Es gibt keinen anderen Weg außer dem nach Burma. Ich wage nicht, darum zu beten. Ich fürchte mich. Ich habe zwei Frauen getötet, eine davon völlig sinnlos, gestern, vorgestern? Es ist, als wäre es eben gewesen, kurz vor dem Frühstück. Heute ist der zweite Oktober. Einen Monat und sieben Tage noch muss ich in London überleben. Nie hätte ich gedacht, dass mir das Bleiben mehr Angst machen würde als das Gehen. Alles hat sich verändert und in sein Gegenteil verkehrt. Nichts ist mehr klar und eindeutig.
    Die Menschen draußen gefallen sich in der Rolle eines Geschöpfes namens Jack the Ripper. Die Kirche ist mein Gefängnis geworden. Ich kenne den Pater nicht mehr, weiß nicht mehr, wie ich ihn einschätzen soll. Ich kenne mich selbst nicht mehr. Und Gott?
    Ich glaube nicht, dass Gott sehr viel Gefallen an meinen letzten Taten findet. Zwei Märtyrerinnen sind zwei zu viel oder zwei zu wenig.
    Würde ich doch nur einen Bruchteil der Lust empfinden, die die Masse empfindet, wenn sie sich in ihrer schalen, beengten Phantasie in ihren heimlichen Helden Jack the Ripper verwandelt!
    Hätte mir diese wunderbare Italienerin in der Herberge in Padua nicht das unvergessliche Sinnenerlebnis geschenkt, hätte ich Frauen heute vielleicht hassen können, wie die Öffentlichkeit es tut und es in spektakulärem Maße von mir verlangt. So empfinde ich nur Trauer für die Toten. Unbeschreibliche, mich zerreißende Trauer.
    Tränen tropfen auf
    An dieser Stelle brach der Text erstmals mitten im Satz ab. Tatsächlich wirkte das Papier aufgeweicht, und die allgegenwärtigen Tintenkleckse hatten eine runde, blumige Form angenommen. Man konnte sogar schätzen, wie viele Tränen auf das Papier gefallen waren – mindestens sieben waren es, und Walter Sickert drückte sich zurück in den Stuhl, damit es nicht mehr wurden.
    3. Oktober 1888
    Alles ist aus. Das Ende ist da. Ich bin tot, vernichtet.
    Pater Ouston ist zurückgekehrt. Unwillkürlich habe ich ihn umarmt. Wie dankbar war ich ihm, dass er trotz allem zu mir zurückgekehrt war, dass er mich nicht an den Galgen brachte. Er stieß mich von sich. Ich umarmte ihn erneut. Wieder stieß er mich weg, und ich warf mich weinend auf den Boden, kroch vor ihm, bat um seine Vergebung.
    Ich sei verwirrt. Ich sei krank. Ich wisse nicht, was ich tue. Zunächst dachte ich, er sei es, der all diese Worte aussprach, bis ich merkte, dass ich selbst es war, der sich damit offenbarte und entblößte. Ich schrie und wimmerte. Sagte ihm, wie durcheinander ich war. Wie leid es mir tat. Wie sehr ich zu Gott um die Ruhe der Toten betete. Dass ich ein Mörder sei. Dass ich ein Dilettant sei. Dass ich den Namen Jack the Ripper annehmen und tragen würde, wie eine Schandmaske. Dass ich fürchtete, ganz und gar den Verstand verloren zu haben. Dass ich mir nicht einmal mehr sicher war, ob das Stück Holz, welches ich in
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