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Der Allesforscher: Roman (German Edition)

Der Allesforscher: Roman (German Edition)

Titel: Der Allesforscher: Roman (German Edition)
Autoren: Heinrich Steinfest
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zuletzt aus der Überzeugung, in diesem Moment über den absolut idealen Gehirnzustand zu verfügen, um die wahre Schönheit eines Kusses zu begreifen.
    Gehirnzustand? Na, auch Gehirne haben solche und solche Tage.
    Jetzt könnte man freilich einwenden, daß das eine Küssen gerne wie das andere daherkam und sich nur die sauschlechten Küsse wirklich vom Rest der Masse abhoben. Aber vielleicht war ich bisher einfach nicht aufmerksam genug gewesen, zu sehr hingerissen vom Empfinden, zuwenig mit dem Kopf dabei.
    Im Zuge solcher Einsicht sagte ich – ich sagte es laut, obwohl ich es eigentlich nur hatte denken wollen –, ich sagte also: »Man muß küssen wie ein Schriftsteller.«
    »Wie bitte?«
    »Meine Güte, verzeihen Sie, Frau Doktor. Ich behaupte nicht, daß Schriftsteller besser küssen.«
    »Wieso auch sollten sie?«
    »Ich meine nur, daß man sich auf jede einzelne Nuance so konzentrieren sollte, als würde man einen Bericht verfassen, einen Roman schreiben, ein Gedicht.«
    »Sie haben eine merkwürdige Art, mich nach einem Kuß zu fragen. Wo Sie doch vorher nicht gefragt haben, ob Sie nach meiner Hand greifen dürfen.«
    Richtig, die Hand war noch immer dort, wo ich sie abgelegt hatte, und im Grunde hätte ich ja erst einmal damit anfangen können, genau diesen Zustand mit schriftstellerischer Eindringlichkeit zu würdigen. Aber ich war jetzt halt ganz aufs Küssen versessen. Darum löste ich meine Hand und näherte dafür mein Gesicht dem ihren. Ich konnte mich in ihren Augen spiegeln.
    Und dann der Kuß, das spürbare Zögern, mit dem die Lippen endlich den Mund freigaben. Ein Zögern, das sich fortsetzte, ohne sich aber wie eine Beleidigung anzufühlen. Wie man zögert, ins Meer zu gehen, auch wenn man gerne im Wasser ist.
    Ihre Zunge fühlte sich so kompakt und fest an, wie ihr Körper aussah. Kein Brett, nicht steif, aber doch wie ein Stein, wenn man sich vorstellt, Steine wären beweglich. Oder Architektur könnte sich bewegen. Häuser, die sich biegen und dehnen und deren Feuchtigkeit vom Regen stammt, der an den Fassaden herunterperlt. Diese Zunge vermittelte in keiner Weise die totale Hingabe, gab sich nicht auf, erniedrigte sich nicht, nur weil das Wort »Liebe« im Raum stand. Im Grunde spürte ich, daß ich diese Frau niemals, wie man so sagt, besitzen würde. Jetzt nicht und später nicht. Aber es ist eben mehr als bloß eine religiöse oder pädagogische Phrase, wie gut etwas sein kann, das man nicht besitzt. Den warmen Wind besitzt man auch nicht, und er tut trotzdem gut. Er kommt halt oder er kommt nicht, das ist seine Freiheit, der wir unterliegen. Und es braucht gar nicht zu verwundern, daß wir um das Wetter noch mehr Theater machen als um die Liebe. Manche interessieren sich für Politik, manche für den Sport, andere flüchten in die Kunst, das Wetter aber interessiert alle. Und heimlich sind alle froh, daß man es weder bestellen noch kaufen, noch erpressen kann. (Obgleich gewisse Nationen, etwa die Chinesen, einiges versuchen, um das Wetter an die Wand zu stellen und zu erschießen.)
    »Und jetzt?« fragte ich, nachdem unsere Münder sich wieder getrennt hatten, und fügte ein gehauchtes »Du« an.
    Na, vielleicht hätte etwas weniger Hauch besser gewirkt. Jedenfalls meinte Lana: »Ich würde tatsächlich sehr gerne beim Sie bleiben, wenn das geht.«
    »Kein Problem«, beeilte ich mich zu erklären. Und: »Können wir trotzdem miteinander schlafen?«
    Sie nickte. Dabei wirkte sie jetzt wirklich müde. Ein Schleier verdeckte den Himmel in ihrem Gesicht, silbriggrau.
    Mich packte das schlechte Gewissen. Ich sagte ihr, wenn sie zu müde sei …
    »Nein. Lassen Sie uns gehen.«
    Wir gingen. Nicht zu ihr und auch nicht zu mir. Sondern in ein Hotel, welches gleich um die Ecke lag. Kein Luxushotel, aber das war ziemlich egal.
    Alsbald standen wir im Zimmer und betrachteten uns. Ich dachte mir: »Verdammt, wie bei einem Duell.«
    Dann aber kam sie näher und begann mich auszuziehen. Ganz die Frau Doktor, die sie war. Als seziere sie. Doch es war nicht gefühllos, nur sehr präzise und diszipliniert, wie sie da einen Knopf nach dem anderen durch den Schlitz führte. Man hätte nach dem gleichmäßigen Intervall, der das Öffnen der einzelnen Knöpfe bestimmte, wahrscheinlich eine neue Zeitskala entwickeln können.
    Ich war von der Art, wie sie mich da »aufknöpfte«, derart fasziniert, daß ich es nicht wagte, den Prozeß dadurch zu stören, ihr Kostüm auch nur anzufassen. So geschah, was
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