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Denn das Glueck ist eine Reise

Denn das Glueck ist eine Reise

Titel: Denn das Glueck ist eine Reise
Autoren: Caroline Vermalle
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hineingeschrieben, das Geschriebene gezeigt und so weiter und so fort. Drei oder vier Mal jedoch, mittlerweile war es schon spät, verstummten sie beide und lauschten den Geräuschen des Krankenhauses. Dann redeten sie wieder weiter, doch ihre Stimmen wurden jedes Mal ein wenig leiser, und als sie sich verabschiedeten, flüsterten sie beinahe. Georges dachte noch einmal an das schöne Gespräch und das, was er Charles, Adèle, Françoise und Ginette gesagt und geschrieben hatte. War es genug? Würde es jemals genug sein können?
    Und dann brach auch schon der Morgen herein. Der Morgen der Operation.

Mittwoch, 15. Oktober

    Loches (Indres-et-Loire)
    ....................
    Georges wurde in den Operationssaal geschoben. Was fühlte er? Hatte er Angst, oder machte er sich Sorgen? Nein, er fühlte sich einfach zutiefst wie er selbst. Er war wie eine Insel, eine große Insel, die alles vereinte, was er jemals gewesen war und was er geträumt hatte zu sein. Körper, Seele und Geist verschmolzen zu einer Einheit: sein Kopf, der voller Erinnerungen war, seine Gefühle, die er manchmal nur mit Mühe hatte beherrschen können, sein Körper, der ihm Kraft gegeben, Schmerzen bereitet, ihm Freude und Hoffnung geschenkt hatte. Alles, was Georges Nicoleau ausmachte, war auf dieser Insel, in diesem Bett auf vier Rädern. Auf dem Operationstisch verlor er einen Augenblick diesen Eindruck, und die Insel schien zu zerbröckeln und sich aufzulösen. Doch als der andere Georges, Georges der Afrikaner, der schwarze Georges, der in einer Ecke des Operationssaales stand, ihn mit seinem freundlichen Lächeln anstrahlte, fügten die Teile sich wieder zusammen. Als er die Narkose bekam, war es so, als würde er von einer Welle davongewiegt. Der schwarze Georges lächelte noch immer. Der weiße Georges lächelte auch, doch das wusste niemand.

Samstag, 18. Oktober

    Poitiers (Vienne)
    ....................
    Die Nachricht überraschte niemanden – nur das medizinische Personal. Die Ärzte hatten von Prozentsätzen, Medikamenten, Injektionen und Eingriffen gesprochen und alles aufgelistet, was sie hatten tun können und was nicht. Georges wachte nicht mehr aus der Narkose auf.
    Adèle konnte erst an diesem Morgen mit dem Flugzeug kommen. Die Beerdigung sollte am nächsten Tag stattfinden. Ihre Mutter, die gerade aus Peru zurückgekehrt war, würde am Flughafen von Poitiers auf sie warten. Sie hatte nicht rechtzeitig zurückkommen können, um ihren Vater noch einmal zu sehen. Adèle tat es für ihre Mutter in der Seele weh.
    Adèle stieg aus dem Flugzeug und überquerte mit gesenktem Blick das Rollfeld, denn sie wagte es nicht, auf das kleine Flughafengebäude zu schauen. Fast zwei Monate hatte sie ihre Mutter nicht gesehen. Sie fürchtete sich davor, ihr alles zu erzählen. Sie fürchtete sich auch vor dem Leid – ihrem und dem der anderen – und dem Gefühl der Ohnmacht in dieser Situation, der sie sich kaum gewachsen fühlte.
    Schließlich erblickte Adèle ihre Mutter. Sie, die ihren schlanken Körper immer schön gerade hielt und in elegante Kostüme kleidete, trug heute eine Jeans und einen dunklen Rollkragenpullover und saß in dem verlassenen Flughafengebäude auf einer Bank. Sie umarmten sich, hielten sich lange umschlungen und bemühten sich, nicht zu weinen – doch vergebens.
    »Ich finde, du bist dünner geworden«, sagte ihre Mutter schließlich und schaute Adèle lächelnd an.
    »Das liegt an dem Fraß am Set.« Adèle wischte sich mit dem Ärmel ihres Pullovers die Tränen aus dem Gesicht. »Die setzen einem da unmögliches Zeug vor, und alles ist furchtbar fettig und süß. Also esse ich nichts. Wann bist du angekommen?«
    »Gestern Abend.«
    »Und wie war die Klettertour?«
    »Ich habe keine Klettertour gemacht«, erwiderte Françoise in einem erstaunlich ruhigen Ton.
    »Ach ja? Ist sie ausgefallen?«
    »Nein. Es hat nie eine Klettertour gegeben. Ich war zwar in Peru, aber in Lima. Ich hatte dort Telefon, E-Mail, und sogar mein Handy hatte Empfang. Ich war bestens erreichbar.«
    »Ach ja? Opa dachte, dass du ...«
    »Ja, ich weiß. Ich habe am Montag mit ihm telefoniert und ihm alles erzählt. Er hat es verstanden.«
    Adèle spürte, dass Wut in ihr aufstieg. Sie hatte Lügen nie gemocht und wusste nicht, was sie davon zu halten hatte. Jetzt waren sie ganz allein in dem Flughafengebäude, das ihnen mitten auf dem verlassenen Flughafen plötzlich sehr groß erschien. Bis zum Abend würde hier kein Flugzeug mehr starten oder
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