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Denn das Glueck ist eine Reise

Denn das Glueck ist eine Reise

Titel: Denn das Glueck ist eine Reise
Autoren: Caroline Vermalle
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Bedeutung zu sein, und wurde zu einem Gefühl von Verschiedenheit, das es ihnen gerade erlaubte, sich Dinge anzuvertrauen. Den ganzen Tag unterhielten sie sich auf dem Weg von der Garderobe zum Set und auf dem Weg vom Set zur Garderobe.
    Irving sprach viel über seine Vergangenheit, und Adèle musste zugeben, dass sie diese faszinierend fand. Er hatte mit einigen großen Darstellern des englischen Films zusammengearbeitet und war wie viele Schauspieler jener Zeit immer für practical jokes , Streiche, zu haben. Er sprach auch über seine Filmlieben, seine Erfolge und Niederlagen. Adèle fand seine Anekdoten lustig und rührend, und nach und nach erschien der alte Irving ihr wie ein junger, vielversprechender Schauspieler, ein kultivierter Dandy und ein geistreicher Romantiker. Unter Adèles amüsiertem Blick wurde er immer jünger.

Mittwoch, 17. September

    London
    ....................
    Am zweiten Drehtag schaute sich Irving während des Mittagessens in der Kantine nach Adèle um. Sie freute sich darüber, denn sie war lieber in seiner Gesellschaft als in der der jungen Frauen, die ein paar Tische weiter lauthals quatschten. Diesmal monologisierte er aber nicht nur, sondern stellte seiner jungen Zuhörerin auch ein paar Fragen: Woher stammte ihre Familie? Seit wann wohnte sie in London? Und so fort. Frankreich wurde eines von vielen Themen in ihren Gesprächen. Irvings Bruder, der schon lange tot war, war bei der Landung der Alliierten dabei gewesen und hatte »Dünkirchen« überlebt. Irving erinnerte sich an die Briefe seines Bruders und dessen Erlebnisse, über die er nach dem Krieg mit ihm gesprochen hatte. Allerdings hatte Irving nicht vor, aus dieser Zeit eine ergreifende, traurige Geschichtsstunde zu machen, sondern er erzählte ihr ein paar komische Begebenheiten, und dafür war sie ihm dankbar. Adèle vergaß sogar den Stress, der zu Beginn solcher Dreharbeiten immer herrschte. Sie ertappte sich dabei, ihm von Kindheitserlebnissen, ihren Plänen, ihrer Karriere und anderen Dingen zu erzählen und ihre Ansichten über Frankreich mit ihm zu teilen.
    Als Adèle den viel zu süßen Kuchen wegschob, der in der Vanillesoße beinahe ertrank, fragte Irving sie, ob ihre Großeltern noch lebten. Ja, sie hatte noch einen Großvater, der auf dem Lande lebte. Besuchte sie ihn oft? Nein, sie hatte seit fast zehn Jahren kaum noch Kontakt zu ihm. Als Kind hatte sie oft die Ferien bei den Großeltern verbracht, aber Sie wissen ja, wie das ist. Man entfremdet sich, und dann irgendwann ...
    Irving betrachtete sie aufmerksam. »Sie wissen ja, wie das ist. Man entfremdet sich, und dann irgendwann ...« Ja, Irving wusste es. Und er kannte dieses »dann irgendwann«, das Adèle nicht näher definieren wollte. Das war die Gleichgültigkeit.

    Irving Ferns verließ das Filmteam, nachdem seine Szene abgedreht worden war. Während der letzten Stunden begleitete Adèle ihn zum Set und in die Garderobe, aber es war so, als hätte das herzliche Gespräch am Tag zuvor niemals stattgefunden. Irving war noch immer vorbildlich höflich, doch nichts wies darauf hin, wie gut sie sich verstanden hatten. Jeder andere hätte vermutet, dass es eine Laune war, denn die Schauspieler waren extrem flatterhaft. Das wusste sogar Adèle, die noch nicht viel Erfahrung hatte. Schließlich schleppten sie alle eine Menge Rollen in ihren Köpfen mit sich herum und mussten enormem Druck standhalten. Doch Adèle konnte nicht umhin, sich Fragen zu stellen. Vielleicht hatte Irving Ferns recht, enttäuscht zu sein. Vielleicht hatte er geglaubt, Adèle gehöre nicht zu den Leuten, die zuließen, dass die Zeit ihren Großvater auslöschte.
    Irving Ferns hatte ein altes Schuldgefühl bei ihr geweckt, das in ihr geschlummert hatte und das bei jedem Geburtstag belastender wurde. Immer wenn sie daran dachte, sagte sie sich ... Was sagte sie sich? Sie sagte sich nichts, da es nichts zu sagen gab. Sie versuchte einfach, nicht daran zu denken. Jetzt war sie fast dreiundzwanzig Jahre alt und keine launenhafte, egoistische Jugendliche mehr. Warum hatte sie in all den Jahren nie Kontakt zu ihrem Großvater aufgenommen? Hatte sie schlechte Erinnerungen an die Ferien, die sie bei ihm verbracht hatte? Nein, Adèle hatte eine Kindheit gehabt, die ihr, wohl zu Unrecht, ziemlich gewöhnlich vorkam: Sie war glücklich gewesen. Keine Leidensgeschichten, keine Enttäuschungen, keine Geheimnisse, die es aufzudecken gab. Hatte ihr Großvater kleine Mädchen gefressen? Nein. Hatte er
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