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Denn das Glueck ist eine Reise

Denn das Glueck ist eine Reise

Titel: Denn das Glueck ist eine Reise
Autoren: Caroline Vermalle
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der Straße und in der Dunkelheit. Alles war gesagt.

Sonntag, 19. Oktober

    Chanteloup (Deux-Sèvres)
    ....................
    Die Beerdigung war schnell organisiert. Françoise und ihr Vater hatten schon lange im Vorfeld alles geregelt. Adèle würde von dieser Beerdigung vor allem bestimmte Bilder in Erinnerung behalten: den Marmorstein, der dieselbe graue Farbe hatte wie der Himmel; die Plastikblumen, die kleinen Korbstühle in der Kirche, ihre Absätze auf dem Kies auf dem Friedhof, die fremden Gesichter am Grab. Es war fast wie bei jeder Beerdigung. Sie hatte sich nicht wohl in ihrer Haut gefühlt.
    Am stärksten aber würde Adèle sich an den Vormittag erinnern. Sie traf sich mit ihrer Mutter im Haus ihres Großvaters, um sich für die Beerdigung umzuziehen. Nebenan machten Charles und Thérèse sich ebenfalls fertig. Adèle hatte kaum Zeit gehabt, sich im Haus umzusehen, in dem sie seit zehn Jahren nicht mehr gewesen war. Sie hatte sich vor allem darauf konzentriert, sich um ihre Mutter zu kümmern, die sich bemühte, ihre Tränen zurückzuhalten. Selbst in dieser Situation büßte Françoise nichts an Eleganz und Attraktivität ein. Adèle stieg die Treppe hinunter, um in der Küche Kaffee für sie zu kochen. Man hatte das Gefühl, das Haus sei noch immer bewohnt. Das Haus ihrer Großeltern. Und sie hatte geglaubt, sich nicht mehr daran zu erinnern. Wie sehr sie sich doch geirrt hatte!
    Auf einen Schlag brach alles über sie herein. Zuerst wunderte sie sich, dass sie noch wusste, wo die Kaffeetassen, die Kaffeelöffel, die Geschirrhandtücher und der Pulverkaffee aufbewahrt wurden. Und der kleine Porzellantopf, in dem ihre Großmutter ihren Mäusespeck versteckte. Die Suppenterrine mit dem Reliefdekor im Geschirrschrank, in dem ihr Großvater die Rechnungen aufbewahrte. Die Schublade mit den kleinen Bleistiften. Adèle war überrascht, dass sie auch den Garten wiedererkannte, als sie durch das Fenster über der Spüle hinausschaute. Sicher, er war viel kleiner als in ihrer Erinnerung, aber sie erkannte die Bäume wieder, den Kies, den großen Fliederstrauch, den Teich in der Ferne, die blaue Plastikschnur, mit der das kleine Tor verschlossen wurde. Während ihr Blick durch das Zimmer wanderte, stiegen von überall her glückliche Erinnerungen auf, die sie längst vergessen glaubte. All die kleinen Gegenstände in dem Haus wurden wertvoll. Adèle hätte sie am liebsten alle aufbewahrt wie seltene Blumen in einem Herbarium oder wie Schmetterlinge, die man auf Nadeln spießte. Könnte sie auch den Geruch des Wandschranks, in dem die Gesellschaftsspiele lagen, auf Nadeln spießen? Den Geschmack der Karamellbonbons, der ihr auf der Zunge lag, als sie die hellblaue Plastikdose öffnete? Und die sorgfältige Schrift ihres Großvaters auf den Schecks, die er ihr zum Geburtstag schenkte? Es hätte ihren Großvater sicherlich gefreut, wenn er gesehen hätte, wie kostbar all diese Erinnerungen für sie waren. Adèle ertappte sich sogar dabei, dass sie ihm fast eine SMS geschrieben hätte. Ehe sie es bedauern konnte, es nicht mehr tun zu können, fiel ihr Blick auf etwas ganz Bestimmtes, worauf die Bilder ihrer Kindheit sie wie eine Woge überschwemmten. Das Foto ihrer Mutter als kleines Kind in diesem hübschen, geschnitzten Rahmen weckte auch in ihr die Erinnerung an Ausflüge in der mit Heu beladenen Schubkarre. Eine Reproduktion der Sonnenblumen von van Gogh im Treppenaufgang rief für sie den Duft der Orangenblütenessenz hervor, die ihre Großmutter ihr in einem kleinen Glas Wasser gegeben hatte, ehe sie sie zu Bett brachte. Die bunten Rücken der alten Taschenbücher waren für sie die unzähligen Kartenspiele, bei denen die anderen sie immer hatten gewinnen lassen. Die Duralex-Gläser erinnerten sie an kleine Schlüsselblumensträuße, die sie auf der Wiese des Nachbarn gepflückt und ihrer Oma geschenkt hatte. Und immer mehr Erinnerungen stiegen aus der Vergangenheit auf. Die Quelle schien unerschöpflich zu sein: Wörter, Bilder, Gerüche, Albträume und lautes Lachen, all die Weihnachtsfeste und die Frühlingsferien, all die Ostereier und die Kinderspiele, die aufgeschlagenen Knie, das Lächeln ihrer Großmutter, und plötzlich begann sie zu weinen wie das kleine Mädchen, an das auch dieses Haus sich endlich wieder erinnerte.
    Dort in dieser kleinen Küche erwies Adèle ihrem Großvater die größte Ehre und nicht auf dem Friedhof und auch nicht durch den Marmorstein, der bald aufgestellt werden sollte. Hier
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