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Denn das Glueck ist eine Reise

Denn das Glueck ist eine Reise

Titel: Denn das Glueck ist eine Reise
Autoren: Caroline Vermalle
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Hinter dem schönen Strand und den hohen Gräsern der Dünen sah man die Häuser kaum. Charles kannte den Ort gut, denn er hatte seine Schwester, die das ganze Jahr über dort wohnte, oft besucht. Georges hingegen, der zum ersten Mal hierherkam, freute sich sehr, diesen Ort zu entdecken.
    Um 11.30 Uhr trafen sie in dem kleinen Badeort ein. Da sie erst zum Mittagessen erwartet wurden und ihre Gastgeberin nicht zu früh belästigen wollten, beschlossen die beiden Freunde, das Meer bewundern zu gehen, das hinter den Fahnen auf der Uferpromenade rauschte. Die Sonne, die sich während des Sommers kaum gezeigt hatte, erwärmte den Sand am Strand und lud die letzten Urlaubsgäste zu Spaziergängen ein. Georges und Charles, die durch den Sand liefen und auf den Atlantik schauten, waren glücklich, wagten aber nicht, es sich zu sagen.
    Die beiden Nachbarn befiel plötzlich eine Art Befangenheit. Es sollte vielleicht erwähnt werden, dass ihre Freundschaft sich seit dreißig Jahren immer innerhalb desselben Rahmens abgespielt hatte (wenn man genau überlegte, waren es schon eher vierzig). Sie tranken während der Wettervorhersage gemeinsam ihren Kräutertee und luden sich gegenseitig zu Geburtstagen und Familienfesten ein. Anfangs nur zum Dessert und zum Kaffee, bis zu jenem Tag vor mehr als fünfzehn Jahren, als Charles Georges und seine Frau – versehentlich oder auch nicht – auch zur Vorspeise und zum Hauptgericht eingeladen hatte. Also immer dann, wenn noch ernste Gespräche geführt wurden, die Krawatten noch ordentlich gebunden und die Schwiegertöchter noch höflich waren. Zu ihrer Freundschaft gehörten außerdem das Borgen von Kopfsalaten, Schraubenziehern, kleinen Lieferwagen, Gefrierbeuteln, Schnüren und Stricken jeder Art, die Adressenbeschaffung von irgendwelchen Cousins und kleinere Gefälligkeiten. Es war ein praktischer und angenehmer Trott. Gott weiß, warum sie sich auf einmal wichtig tun und ihre Gewohnheiten ändern wollten.
    Plötzlich standen sie dort in Notre-Dame-de-Monts am Meer und wussten nicht mehr, was sie sagen sollten. Ihre Freundschaft atmete die Luft der großen, weiten Welt. Sie würden sehen, ob sie dieser Herausforderung gewachsen war.

    Um Punkt halb eins kamen Georges und Charles bei Ginette an. Herzliche Umarmungen, hattet ihr eine gute Fahrt, wie immer viel Verkehr vor Le Perrier, aber sonst lief es gut, es ist noch schön, ihr bringt die Sonne mit, den ganzen Sommer hatten wir ein Sauwetter, und die Gesundheit, man darf sich nicht beklagen. Es waren jedes Jahr dieselben Worte, das Frage-und-Antwort-Spiel, das jeder auswendig kannte, alle redeten gleichzeitig. Es war wie der Refrain eines Liedes, das man gern sang.
    Ginette schlug vor, auf der Terrasse zu essen, wo der Tisch bereits gedeckt war. War es die Meeresluft oder vielleicht die angenehme Süße der Pinien, die dem Garten zur Kaffeezeit diesen herrlichen Duft verlieh? Georges hatte sich seit Jahren nicht mehr so wohl gefühlt. Er hatte Ginette bereits auf Familienfeiern kennengelernt und ihre Art als ein wenig schroff empfunden. Doch hier bei ihr zu Hause war sie ganz anders. Mit ihrem rötlichen Haar, ihrer Dreiviertelhose und den orangeroten Plastiksandalen sah man ihr die dreiundsiebzig Jahre gar nicht an. Georges war ihre jugendliche Vitalität bisher nie aufgefallen, oder bekam ihr etwa das Leben als Witwe so gut? Jedenfalls fand er, dass Ginette hier in ihrem Garten eine Spur koketter und ihre ein wenig bestimmende Art reizvoller war, so sanft wie der Herbstwind in den Pinien − und wie dieser kleine Pflaumenschnaps, der es in sich hatte.
    Charles behielt alles im Auge. Denn Georges, der sensibel auf solche Einflüsse reagierte – nämlich auf den von Ginette oder den des Schnapses oder auch auf beide gleichzeitig –, war total aufgedreht. Plötzlich fielen ihm die Texte von Liedern ein, die er bestimmt seit sechzig Jahren nicht mehr angestimmt hatte. Er sprach auch über die tausend glorreichen Augenblicke der Tour de France, die sie alle wiederaufleben lassen würden, erzählte Geschichten aus der Vergangenheit und sang Lobeshymnen auf die Zukunft. Die schüchternen Nachbarn hatten ihre Geschwätzigkeit wiedergefunden.
    Auf den Pflaumenschnaps folgte der Kakao, auf das Gläschen Wein der Kräutertee, und so wich der Nachmittag dem Abend und der Abend der Nacht. Nach einem Abendessen, das dem Mittagessen in nichts nachstand, hatten alle Lust, eine Partie Rommé zu spielen.
    Ginette holte die Spielunterlage (ein
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