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Den Letzten beißen die Schafe

Den Letzten beißen die Schafe

Titel: Den Letzten beißen die Schafe
Autoren: Oliver Dierssen
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es ebenso wie ich keine Lust mehr auf Antidepressiva.
    „Du solltest besser abhauen“, riet ich ihm. „Auch wenn ich mit euch Schafen nichts mehr zu tun haben möchte, wäre es kein Problem für mich, dich einfach zu erledigen, klar?“
    Das Schaf blickte auf. Es kaute mit offenem Mund und ausdruckslosem Gesicht. _Henry_ stand auf der Metallplakette in seinem wundgescheuerten Hängeohr.
    „Ich könnte dich umbringen, Henry. Hier an Ort und Stelle. Aber ich tue es nicht. Egal, was du hier willst, es ist nicht da. Kein Leben und kein Tod“, philosophierte ich halbherzig. Wenn ich mich jetzt wieder an der ganzen Untot-Sache festargumentierte und in Rage redete, konnte ich meine Nachtruhe vergessen.
    Henry schmatzte und zeigte mir einen zermalmten Krokus auf seiner trockenen Pflanzenfresserzunge. Eine klare Geste: Schau her, ich bin ein vegetarisches Schaf, mir fällt es leicht, niemanden zu töten, haha.
    Das Schaf wusste anscheinend Bescheid. Es hatte kapiert, dass jeder einzelne Patient nur aus einem Grund hier war: Um von den Menschen loszukommen, von der Blutsucht, um die Kette an niemals endenden unerfreulichen Ereignissen zu durchbrechen. („Guten Tag, darf ich mich zu Ihnen setzen, ach, Sie interessieren sich auch für Jazz, herrlich, trinken wir doch noch einen Cappucchino bei mir.“ – und zack! Blutbad, Schuldgefühle, Entsorgungsprobleme, ständig eine verstopfte Toilette.)
    Ich konnte gut darauf verzichten, von einem Schaf verspottet zu werden. Glücklicherweise war jede Kapillare meines Körpers durchtränkt von einer samtschwarzen klinischen Depression, der vollkommensten mitternachtsdunklen Gleichgültigkeit, die jeden gesunden Impuls, ein anderes Lebewesen zu erledigen, vollkommen unterdrückte.
    In den siebzehn Jahren hier im Therapiereservat war aus mir eine träge, ausgemergelte Karikatur eines Vampirs geworden. Der einstige Schrecken der Hinterhöfe, das Grauen der Großstadt, die Geißel der Parkhäuser lag jetzt nächtelang apathisch in ungepflegten Grünanlagen herum und dachte über eine pragmatische Lösung nach, geräuschlos und ohne viel Aufhebens aus dem irdischen Leben zu scheiden.
    In der Sonne verbrennen ging nicht, und von einem Artgenossen entleibt werden schied auch aus, da ich in einem Anfall von Langeweile alle Kollegen verscheucht oder verspeist hatte, die mir einigermaßen gefährlich hätten werden können. Nicht wenige meiner Art haben sich im Meer versenken lassen. Dort unten muss es rappelvoll sein.
    Aber jetzt war ich hier und wusste nicht weiter.
    Das vampirische Dilemma: Menschen jagen macht einsam und unglücklich, der dauerhafte Sonnenmangel lässt die Knochen weich werden, verformt das Gesicht und ist ebenfalls schlecht für das soziale Miteinander, alte Freunde wenden sich ab oder landen früher oder später auf dem Abendbrottisch, psychiatrische Praxen haben nachts geschlossen, und in den Notaufnahmen der Krankenhäuser fließt zu viel Blut, als dass man dort eine einigermaßen entspannte Minute verbringen kann.
    Aber ich komme ins Jammern. Und wenn ich eins deprimierend finde, dann ist das ein jammernder Unsterblicher, der es eigentlich hätte besser wissen müssen, der einfach im richtigen Moment „Non, merci bien!“ hätte sagen müssen (man sprach seinerzeit gern französisch), der im Prinzip damals schon geahnt hatte, dass diese ganze Ewige-Jugend-in-der-Dunkelheit-Sache eine vollkommene Verarschung war, eine Dauerkarte für ein nach Mottenkugeln stinkendes Kino, in dem jahrelang ein nervtötender Stummfilm in Endloswiederholungen ablief, wo liebgewonnene Nebenfiguren mit großer Verlässlichkeit gerade dann ihr blutiges Ende fanden, wenn es mit ihnen am schönsten war und es begann, interessant und persönlich zu werden.
     
    Henry biss mich ohne Vorwarnung mit seinen kräftigen, runden Graskauerzähnen in den Unterschenkel, während ich versuchte, mich durch Anstarren des Mondes selbst zu hypnotisieren, um mein Leid ein wenig zu verdrängen. (Diese Technik hatte ich in der Social-Skills-Gruppe gelernt, als es noch genügend motivierte Vampire im Reservat gab, die freiwillig vor Mittag aus ihren Schlafkojen krochen und zu etwas anderem zu bewegen waren als Kickern und Mensch-ärgere-dich-nicht oder Schafkopf. Hypnotisieren ist meine Spezialität.)
    Das impertinente Schaf biss mich. Einfach so, hart und entschlossen, mitten ins Schienbein. Seine Zähne schabten über meinen Knochen.
    Meine Hand schoss automatisch nach vorn, packte Henry im Genick,
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