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Den Letzten beißen die Schafe

Den Letzten beißen die Schafe

Titel: Den Letzten beißen die Schafe
Autoren: Oliver Dierssen
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Allergikergruppe kicherten und tauschten wissende Blicke aus.
    „Ihr glaubt, ich schaffe das da draußen nicht, oder?“ fuhr ich sie an. „Ihr haltet mich für veraltet oder so, ja?“
    „Guck dich doch mal an, Teddy. Du siehst voll hässlich aus, total abgemagert. Die lachen dich doch aus, wenn du so ankommst. Und dann dieses Schaf. Das kommt doch draußen auch nicht zurecht.“
    „So denkt ihr also über mich“, schloss ich.
    Die Flucht war hiermit beschlossene Sache. Das hier war vielleicht einmal mein Zuhause gewesen. Aber ich hatte die Nase voll davon. Hier wurde mir zu viel von alten Zeiten geredet. Hier stand die Uhr still, hier war niemand, der sich wirklich verändern wollte. Hier hatte ich mir eine ordentliche klinische Depression eingefangen. Ich stellte mir mein Ende eigentlich doch anders vor, als im Streit über die Anordnung der Geranien mit einer Heckenschere abgestochen, von heuchlerischen Artgenossen verzehrt und schließlich in einem Krokusfeld verscharrt zu werden. Ich wollte so nicht sterben.
    Wenn ich ehrlich war, wollte ich überhaupt nicht mehr sterben. Der Grund war mir schleierhaft. Ein neues, angenehmes Gefühl: Am Leben sein zu wollen. Ich musste hier raus, ehe sich das wieder änderte.
    „Ich werde gehen. Heute noch“, sagte ich. „Und das Schaf nehme ich mit. Als Wegzehrung. Das ist mein gutes Recht.“
    „Gehen Sie nicht“, jammerte Klabund. Er legte Wert darauf, gesiezt zu werden. Alte Schule. „Was soll denn aus uns werden, wenn Sie gehen? Wie sollen wir weitermachen, wenn Sie freiwillig nach draußen gehen?“
    „Das ist scheiße für die Motivation“, knurrte Theodor und bohrte seinen Rechen tief ins Erdreich. „Wenn einer abhaut.“
    „Ich kann nicht anders“, sagte ich, trat meinen Artgenossen entgegen und schob sanft eine Harke aus dem Weg, mit der mir Undine den Weg abschneiden wollte. (Ich erkannte sie an der Verbrennungsnarbe am Hals, die Folge eines hitzigen Streits mit Gesine in der Flambierküche.)
    „Tu es nicht“, bat sie.
    Ich sah Furcht in ihren Augen, echte vampirische Furcht. Ein seltenes Gefühl, das jeden Moment in einen mörderischen Gefühlsausbruch umschlagen konnte. Wir Vampire sind ein impulsives Völkchen mit dürftiger Frustrationstoleranz.
    Meinetwegen konnte Undine ruhig ausrasten. Das würde lustig werden. Henry und ich machten ihr Angst. Das gefiel mir.
    „Und wenn du ein anderes Schaf mitnimmst?“ lockte Alexander Zimerman, der anscheinend immer noch unter Entzugserscheinungen litt. Der Entzug von Menschenblut dauerte üblicherweise ein knappes Jahr, er hatte noch was vor sich. „Ich könnte dir ein Lamm raussuchen, das schmeckt süß und passt in eine Reisetasche.“
    Henry meckerte und zappelte mit den Hufen, als brächte ihn die Vorstellung, in einer Reisetasche in die Freiheit getragen zu werden, so richtig in Schwung.
     
    Als ich der Gruppe den Rücken zuwandte und einige entschlossene Schritte auf den Drahtzaun zumachte, kam Bewegung in die Sache. Undine flippte als erste aus, schrie rum, irgendjemand solle irgendwas tun, Gesine warf einen Rechen nach mir, dann verlor Alexander Zimerman die Beherrschung, packte mich leichtsinnigerweise von hinten. Ich tötete ihn mit zwei raschen Handbewegungen, trieb ihm das stumpfe Holz seiner Harke durch den Brustkorb und brach ihm das Genick, schleuderte Undine über das Dach des Schafstalls in die ausgehobene, trockene Grube der Teichbau-AG und ließ den Rest der Mannschaft mein Gebiss sehen, das schon das Blut ungezählter Artgenossen gekostet hatte, ehe ich clean wurde.
    Eine saubere Argumentation.
    Klabund brachte mich schließlich allein zum Zaun, kletterte mit mir nach draußen und half mir, Henry behutsam herüberzuheben.
    „Sind Sie ganz sicher, dass Sie nicht bleiben möchten, Herr von Lobkowitz? Sie wissen, wenn Sie einmal weg sind, bleiben Ihnen die Tore verschlossen. Und wenn die Reservatsleitung erfährt, was heute Nacht geschehen ist ...“
    Ich winkte ab. „Das ist denen egal, das wissen Sie selbst, Klabund. Die stellen mir höchstens das Schaf in Rechnung.“
    Henry blökte. Einige dunkle Spritzer hingen in seinem Fell, irgendwas von Alexander Zimerman. Ich wischte sie sanft fort.
    „Leben Sie wohl, Lobkowitz.“ Klabund griff meine schmutzige Hand und schüttelte sie feierlich. Henry schnappte spielerisch nach ihm.
    „Leben Sie wohl, Klabund.“
    Ich nahm Henry am Ohr und führte ihn in die Freiheit.
     
    Henry und ich erreichten die gesperrte Zubringerstraße zur
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