Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Den Letzten beißen die Schafe

Den Letzten beißen die Schafe

Titel: Den Letzten beißen die Schafe
Autoren: Oliver Dierssen
Vom Netzwerk:
sparen. Ich habe dich nicht gerettet, klar? Ich werde dich später fressen, wenn mir danach ist. Denk nicht, du wärst mir etwas schuldig.“ Das wäre es noch, dass ich einen Lebensbund mit einem Schaf einging, das mir fortan ewige Dankbarkeit schuldete.
    Henry zog die Nase hoch und kaute nachdenklich an einem Zipfel meines Kopfkissens. Ich riss es ihm aus dem Maul, machte den Bezug ab, warf das nackte Daunenkissen wieder aufs Bett zurück und stopfte einige Habseligkeiten in den Kissenbezug, meine selbstgenähten Hausschuhe, ein paar Andenken aus der Kunsttherapie und ein langes, schartiges Messer. Eine Tasche hatte ich nicht. Ich war nach einer ziemlich wilden und blutigen Zeit in Sankt Peter Ording nackt eingeliefert worden und hatte mich nach der Zwangsentgiftung fürs Bleiben entschieden.
    „Moment“, sagte ich – und hielt inne. Packte ich? Machte ich mich auf die Socken? Ich wartete seit sechzehn Jahren und neun Monaten auf den Tag, an dem ich den großen Drahtzaun übersteigen würde – an dem ich zurückkehrte in die Freiheit. War dies der Tag? Warum ausgerechnet jetzt?
    Henry schnalzte mit der Zunge.
    „Denk nicht, es läge an dir“, knurrte ich. „Ich wollte schon länger mal einen Ausflug machen. Da draußen kann ich mich von einer Brücke stürzen oder im Meer versenken, klar?“
    Henry schmatzte verständnisvoll. Er schien zu wissen, wie es war, wenn man in einer Sackgasse steckte.
    Ob ich ihn über den Zaun heben konnte, ehe die anderen ihn erwischten? Dass sie uns nicht ohne weiteres gehen lassen würden, lag auf der Hand. Es spielte im Prinzip keine große Rolle, ob Henry hier drinnen oder in Freiheit gefressen wurde. Doch ich gönnte diesen Neuankömmlingen nicht, sich mit meinem Schaf einen schönen Abend zu machen. Er gehörte mir , das war alles. Und sie hatten nicht bitte gesagt.
    Es spielte keine Rolle, ob Henry kuschelig und zutraulich und verständnisvoll war oder nicht. Ich würde ihn auch dann mitnehmen, wenn er nicht so vertrauensselig in meiner Schlafkoje einschlummert wäre, den zerkauten Zipfel meines Kopfkissens im Maul, die Schnauze weiß von angelutschten Entendaunen.
    „Du bist die Wegzehrung, nichts weiter“, flüsterte ich ihm zu, „denn auch wenn ich hier raus bin, bleibe ich ein Vampir, der Tiere frisst, klar? Die siebzehn Jahre waren nicht umsonst, mit dem Menschenfressen ist Schluss, jetzt sind halt Schafe dran, Pech für dich, kleiner Freund.“
    Ich wartete, bis die Nachtbeleuchtung auf dem Hof erloschen war, klemmte mir Henry unter den Arm, fegte den Kleiderständer zur Seite und trat nach draußen in die Nacht.
     
    Sieben oder acht Vampire hatten sich vor dem Gebäude zusammengerottet, bewaffnet mit dem verwaisten Arsenal der Gartenbaugruppe: Harken, Rechen, einer Schrotsäge und einer kleinen Hacke. Ich erkannte unter ihnen Klabund aus der Patientenselbstverwaltung, die dicken bösen Zwillinge Undine und Gesine und den einzigen anderen Überlebenden der Gartenbaugruppe, der wie ich Theodor hieß, was uns schon den einen oder anderen blutigen Konflikt zum Thema Putzplan eingebracht hatte.
    „Da ist er! Er haut ab!“ rief Undine oder Gesine. „Wie du es gesagt hast, Alexander. Er verrät uns.“
    „Mit einem Schaf“, sagte Theodor. „Er hat sich mit einem Schaf verbündet. Er macht gemeinsame Sache mit dem Feind.“
    „Die Schafe sind nicht unsere Feinde“, sagte ich. Mit solchen polemischen Äußerungen ritt ich mich nur noch tiefer in den Ärger hinein, aber auch in einer hitzigen Diskussion legte ich Wert auf die Trefflichkeit der Argumente. Von Verallgemeinerungen hielt ich nichts.
    „Gib mir das Schaf und friss diese hier“, rief Alexander Zimerman und warf mir zwei gefesselte Tiere mit frisch rasierten Hälsen vor die Füße. „Gib mir das Schaf, und wir wollen wieder Brüder sein und gemeinsam schmausen.“
    Ich zögerte. Bis hierher war die Flucht recht einfach gewesen. Aber der Widerstand war größer, als ich erwartet hatte. Was war gegen einen kleinen Mitternachtsimbiss einzuwenden? Warum musste man sich immer gleich den Schädel einschlagen? Sollte ich vielleicht doch Henry opfern und die Therapie noch eine Weile weitermachen? Für ein Schaf abbrechen, das war vielleicht übertrieben.
    „Geben Sie auf, Theodor“, sagte Klabund mit Trauermiene. „Wir meinen es gut mit Ihnen. Bleiben Sie bei uns. Draußen sind Sie verloren. Die Welt hat sich weiterbewegt.“
    Undine und Gesine und eine tageslichtscheue, narbige Vampirin aus der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher