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Den Letzten beißen die Schafe

Den Letzten beißen die Schafe

Titel: Den Letzten beißen die Schafe
Autoren: Oliver Dierssen
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schüttelte ihn durch und schmetterte ihn bretthart zu Boden. Ein hässlicher vampirischer Reflex, der unsere Gattung vor unangenehmen Überraschungen während der Ruhephasen schützen soll.
    Das Schaf verdrehte die Augen, würgte mir ein letztes zufriedenes Meckern entgegen und blieb dann still liegen. Sein linkes Vorderbein zuckte noch ein paar Sekunden – der ungelenke Abschiedsgruß eines Paarhufers.
    „Jetzt hast du es!“ schimpfte ich das Schaf aus. „Du wolltest sterben, jetzt hast du es geschafft, jetzt ist es aus mit der Reservatzeit. Und was ist mit mir? Wer haut meinen Kopf auf den Boden?“
    Das Schaf, das Reservat, das Universum blieben mir eine Erklärung schuldig. „Ich bin übrig!“ schrie ich die verwaiste Wiese an, packte meinen Kopf und schlug ihn immer wieder mit aller Kraft auf den torfigen Erdboden. Staub schloss meine Lider. Ich atmete tief ein und schmeckte das traurige Aroma von trockenem Gras, Schafkötteln und dem vergossenen Blut von Generationen verlorener Bluttrinker.
     
    Als ich aufwachte, stand die Sonne hoch am Himmel. Ein Schwarm Zugvögel zog über mir hinweg, hin zu südlicheren, besseren Gestaden. Das Schaf hatte seinen Kopf in meiner Achselhöhle vergraben, schnaufte und schmatzte im Schlaf und hatte einen warmen Fleck in meinen Pullunder gesabbert. Es war nicht tot. Es kuschelte mit mir.
    „Das ist jetzt nicht dein Ernst“, sagte ich zu Henry. „Wir sind Fressfeinde, klar? Beziehungsweise: Ich bin dein Fressfeind, und du bist mein Fressen. Dafür wurdest du eingekauft. Nicht zum Kuscheln.“
    Henry schüttelte sich, schniefte in meine Achsel und ließ einen kurzen, trockenen Furz.
    Ehe ich mich aus dem unbeholfenen Annäherungsversuch winden konnte, fiel ein Schatten über uns. Eine knochige Gestalt vor dem blendenden Mittagshimmel. Alexander Zimerman, ein aggressiver Legastheniker, der erst seit knapp zwei Monaten im Flachbau der Entzugsabteilung wohnte und sich die letzten zehn Jahre getarnt als Autogrammjäger durch die Kulissen aller großen deutschen und holländischen Talentshows gefressen hatte.
    „Hey Teddy, brauchst du das Schaf noch? Ich hab gerade unglaublichen Druck und bräuchte etwas Saft.“ Zimerman trat von einem Bein auf das andere und rieb sich die Handflächen an der speckigen Lederhose trocken. Er schwitzte. Entzugserscheinungen.
    „Du, ich weiß nicht“, begann ich. Was natürlich nicht stimmte, ich wusste sehr wohl: Das war mein Schaf. Henry zuckte in meiner Achselhöhle, als würde er ahnen, dass über ihn gesprochen wurde. „Vielleicht esse ich es später.“
    „Der ganze Lichthof ist voller Schafe.“ Zimerman wies mit unruhigen Fingern auf das Zentralgebäude, wo zweimal wöchentlich die Überschussware vom Großhandel hereingetrieben wurde. „Schöne junge Tiere, kannst dich selbst überzeugen. Aber ich hätte gerne eins, das schläft. Deins sieht so friedlich aus. So unschuldig. Weißt du, so wie früher.“
    Ich ertappte mich dabei, wie ich Henry hinter dem Ohr kraulte. Sein Fell schien eine Spur weniger speckig zu sein als das der anderen Schafe. Ich kniff ihn in eine Nackenfalte. Das Schaf erwachte hustend. 
    „Ich weiß nicht. Eigentlich wollte ich ihn mir für später aufheben. Und er liegt gerade so bequem.“
    Zimerman zuckte mit den Achseln. „Okay, vergiss es“, knurrte er. Aber seine Zungenspitze verriet ihn, blitzschnell schoss sie zwischen den Lippen hervor wie ein hungriger schwarzer Wurm. Er wollte mein Schaf, ich wollte es behalten, es würde Ärger geben. Hier hatten sich Insassen schon für weniger unter die Erde gebracht. Ich musste aufpassen. Nicht, dass es mich wirklich gestört hätte, wenn Zimerman mich erwischte. Aber Henry würde er nicht kriegen. Nicht er. Er hatte nicht einmal bitte gesagt.
     
    Ich führte Henry bei Einbruch der Nacht sicher zu meinem Zimmer im „Sankt-Petersburg“-Gebäudekomplex. Das Schaf drängte sich zutraulich an meinen Oberschenkel und blökte hell und zufrieden, als wir den Stall passierten. Ich schloss uns ein, löschte das Licht und verkeilte meinen Kleiderständer im Türrahmen. Zwei Stunden später seilte sich Alexander Zimerman durch das Oberlicht im Bad ab und wurde von mir und einigen entschlossenen Kleiderbügelhieben empfangen und wieder in die Nacht hinausgeleitet. Er wusste offensichtlich nicht, mit wem er es zu tun hatte.
    Henry hockte in meiner Schlafkoje und mähte zustimmend.
    „So nicht, mein Freund“, ermahnte ich das Schaf. „Den Beifall kannst du dir
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