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Dem Winde versprochen

Dem Winde versprochen

Titel: Dem Winde versprochen
Autoren: Florencia Bonelli
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ausgetauscht hatten, brachte
eine Sklavin Víctor hinein. Der Junge machte vor Melody eine Verbeugung und sagte, ohne aufzuschauen: »Danke, Miss Melody«, ganz so, wie Señorita Béatrice es ihm gesagt hatte. Melody nahm sein Kinn und zwang ihn, sie anzusehen. Zum Erstaunen aller strich sie ihm eine Haarsträhne aus der Stirn und streichelte seine Wange. Víctors Augen glänzten überrascht und glücklich, denn auch wenn Señorita Béatrice ihn sehr gut behandelte und die schwarze Siloé ihn an verbotenen Marmeladen naschen ließ, berührten sie ihn doch so gut wie nie. Für ihn war diese Zärtlichkeit so köstlich wie ein ganzes Einmachglas voller Früchte. Sogar noch viel süßer. Miss Melodys Hand war sanft und warm, so wie er sich die seiner Mutter vorstellte.
    »Keine Ursache, Víctor«, erwiderte Melody. Dann fügte sie hinzu: »Das ist mein Bruder, Jimmy.«
     
    Zwei Tage später trat Melody ihre Stelle an. Es hatte genügt, dass sie versichert hatte, lesen und schreiben zu können – Spanisch und Englisch – sowie rechnen, Klavier und Harfe spielen. Außerdem hatte sie erzählt, dass ihre Eltern vor einiger Zeit gestorben waren und dass sie im Haus einer Tante untergebracht war, die nicht mehr für sie beide aufkommen konnte. Béatrice war sofort überzeugt gewesen, dass es für Víctor niemand Besseres gab als Miss Melody, ebenso für die Töchter von Valdez e Inclán, deren Erziehung in manchen Punkten zu wünschen übrig ließ. Da es von keiner Seite Einwände gab, war der Vertrag in einer halben Stunde geschlossen. Es gab nicht einmal Einwände, als Melody forderte, dass ihr kleiner Bruder Jimmy bei ihr lebte und dass ihr Fuchs im Stall des Hauses untergebracht wurde. Als Alcides sich wegen der zweiten Bitte überrascht zeigte – es kam ihm merkwürdig vor, dass eine so arme Frau ein Pferd besaß –, erklärte ihm die junge Frau, das Tier sei das Einzige, das ihr von ihrem Vater geblieben sei, und um nichts in der Welt würde sie sich von ihm trennen.
    »Wie, sagten Sie noch, heißen Sie?«, hakte Valdez e Inclán nach, während seine Feder über dem Papier schwebte.
    »Isaura Maguire.«
    »Wie?«
    »Isaura Ma-gua-ier. So wird es ausgesprochen, geschrieben Maguire. Es ist irisch.«
    »Aber wir werden Sie alle Miss Melody nennen«, vermittelte Béatrice und schenkte ihr ein warmherziges Lächeln.
    An diesem Abend legte Melody Jimmy die Hand auf die Schultern und sagte: »Ich weiß, es war gefährlich, meinen Namen zu nennen. Aber ich hatte keine andere Wahl. Sie hätten mich nicht angestellt, wenn ich ihn ihnen nicht gegeben hätte. Und wir brauchen diese Arbeit, Jimmy. Sie ist ein Geschenk des Himmels. Papa und Mama haben sie uns geschickt.«
     
    »Und an dem Tag fingen meine Probleme an«, sagte Valdez e Inclán zu Blackraven.
    »Ein junges Mädchen von …? Wie viel Jahren hast du gesagt?«
    »Einundzwanzig.«
    »Eine Gouvernante von einundzwanzig Jahren soll ein Problem sein?«, spottete Blackraven.
    »Von wegen Gouvernante. Sie ist ein Wirbelwind! Ein Orkan! Du kennst sie nicht. Ah, aber das wird sich ändern.«
     
    Das Leben der Familie Valdez e Inclán teilte sich in ein vor und ein nach Miss Melody. Víctor hatte von Anfang einen Narren an ihr gefressen. In der Nacht, nachdem Miss Melody ihm das Haar aus der Stirn gestrichen und sein Gesicht gestreichelt hatte, hatte er ausgiebig von ihr geträumt und war mit einem Lächeln aufgewacht. Und Wochen später, als Miss Melody ihn anzog, hatte er sie gebeten: »Wenn uns niemand hört und sieht, kann ich dann ›Mutter‹ zu Ihnen sagen?«
    »Natürlich kannst du das.«
    »Und Sie, Miss Melody, können Sie dann ›Sohn‹ zu mir sagen?«
    »Natürlich.«
    »Ich habe meine Mutter nicht kennengelernt, meine richtige Mutter, meine ich. Ich weiß nicht, wo sie ist.«
    »Es muss eine großartige Frau sein, wenn sie so ein Kind wie dich hat. Willst du, dass wir für sie beten?« Er nickte, und sie machten das Kreuzzeichen. »Herr, schütze Víctors Mutter, wo auch immer sie sein mag, und falls sie diese Welt schon verlassen hat, erlaube ihr, die ewige Seligkeit mit dir zu teilen. Amen.«
    »Amen. Können wir morgen wieder beten?«
    »Wir werden das jetzt jeden Abend tun.« Melody küsste ihn auf die Stirn und verabschiedete sich. »Träum was Schönes, mein Sohn.«
    »Gute Nacht, Mutter.«
    Mit der Zeit spalteten sich die Bewohner des Hauses wie von selbst in zwei Lager: die, die Miss Melody unterstützten, und die, die sie loswerden wollten. Miss Melody
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