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Delia, die weisse Indianerin

Delia, die weisse Indianerin

Titel: Delia, die weisse Indianerin
Autoren: Marie Louise Fischer
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sie das unausbleibliche Strafgericht auf diese Weise noch um Stunden hinausschieben. Andererseits wollte sie auch nicht, dass die Mutter sich ihretwegen sorgte.
    Der Mops machte Delias Überlegungen ein Ende. Er war zur Tür gelaufen und scharrte eifrig am Holz. Delia wusste, was das bedeutete: Ihr Hund war fürs Heimgehen.
    „Du hast recht, Professor“, sagte sie seufzend. „Ich komme schon!“
    Sie verabschiedete sich herzlich, aber plötzlich sehr eilig von Tante, Onkel, Vettern und Base.
    „Es ist schon dunkel draußen. Wenn du Angst hast, begleite ich dich ein Stück“, erbot sich Onkel Johannes.
    „Ja, tu das!“ stimmte Tante Ruth rasch zu.
    „I wo, nicht nötig“, lehnte Delia ab. „Erstens fürchte ich mich nicht, und zweitens kann mir gar nichts passieren – der Professor passt ja auf mich auf!“
    Sie gab Onkel Johannes noch einen letzten Abschiedskuss und sauste hinter ihrem Mops her ins Freie.
    Eine schmale, helle Mondsichel stand am Himmel. Das ganze Firmament war mit Sternen übersät. Es war eine wunderschöne Nacht, und Delia hätte den Heimweg bestimmt genossen, wenn sie nicht Angst gehabt hätte – zwar nicht vor Räubern oder Gespenstern, sondern aus schlechtem Gewissen.
    Sie liebte ihre Mutter von Herzen und gab sich jeden Tag wieder Mühe, ihr nur Freude zu machen. Aber seltsamerweise klappte es nie. Trotz aller guten Vorsätze ging fast immer irgend etwas schief. Einmal kam sie mit einem Riss im Kleid, ein andermal mit einer schlechten Note nach Hause, dann wieder war sie zu laut, und vorgestern hatte sie gar ein wunderhübsches Meißner Porzellanfigürchen zerbrochen, an dem ihre Mutter ganz besonders gehangen hatte.
    Es ist eben furchtbar schwer, immerzu brav zu sein, wenn man neun Jahre alt und ein so ungestümes Persönchen wie Delia ist. Dazu kam, dass sie in einer Zeit lebte, in der Kinder wie kleine Erwachsene betrachtet wurden, und das tat man in der Mitte des vorvorigen Jahrhunderts.
    Die meisten kleinen Mädchen benahmen sich sehr gesittet, sprachen geziert, bewegten sich anmutig und beherrscht, kurz, sie waren schon richtige kleine Damen.
    Aber Delia brachte das nicht fertig. Vielleicht lag es daran, dass sie beinahe – leider nur beinahe, wie Delia manchmal dachte – ein Junge geworden wäre. Ihre Eltern hatten sich damals, als sie auf die Welt kam, nach den beiden großen Schwestern einen Jungen gewünscht, und der Vater hatte sie auch immer ein bischen so behandelt. Er hatte gelacht, wenn sie wild war, sich über ihre Natürlichkeit gefreut, hatte sie mit auf seine Streifzüge durch Wald und Feld genommen. Ja, sie war Vaters Liebling gewesen und hatte sich in seinem Schutz geborgen, von seiner Anerkennung gestärkt gefühlt. Jetzt war das vorbei, lange vorbei. Der Vater war weit weg in Amerika und hatte sie, die Mutter und die Schwestern, zurückgelassen.
    Warum nur musste das alles geschehen, grübelte Delia, warum nur? Sie hielt den Blick zum Himmel gerichtet und überlegte, ob der Vater wohl im gleichen Augenblick denselben Mond und dieselben Sterne sah – aber nein, das war nicht möglich.
    In Amerika, fiel ihr ein, ging die Sonne sechs Stunden später auf und damit auch sechs Stunden später unter. Jetzt, während sie zum Sternenhimmel sah, war in Amerika also erst früher Nachmittag.
    Wo mochte ihr Vater wohl sein? Was mochte er tun? Ob er sich nach seiner Familie in der fernen Heimat sehnte? Oder ob Wachtmeister Schminke doch recht hatte und ihr Vater schon nicht mehr an sie dachte?
    Eine Sternschnuppe löste sich vom Himmel, und blitzschnell fiel Delia ein, dass sie sich jetzt etwas wünschen durfte. „Bitte, bitte, lass es Vater gutgehen!“ sagte sie laut.
    Später hatte sie das Gefühl, eine Gelegenheit verpasst zu haben. Es wäre besser gewesen, sie hätte sich gewünscht, dass der Vater heimfinden oder seine Familie nachkommen lassen würde. Aber so angestrengt sie auch zum Himmel starrte, es löste sich keine zweite Sternschnuppe mehr.
    Sie stolperte über einen dicken Stein und wäre beinahe der Länge nach hingeschlagen. Das brachte sie zur Besinnung. Sie senkte die Nase zu Boden und setzte sich wieder in Trab. Siedend heiß wurde ihr bewusst, dass die Mutter wahrscheinlich voller Sorge zu Hause auf sie wartete.
    Delias Elternhaus lag am Marktplatz, eine gute Viertelstunde vom Stadttor entfernt. Aber wenn man den Weg hinter den Häusern, an den kleinen Gärten vorbei, nahm, konnte man abkürzen. Delia tat es. Sie hegte dabei die zaghafte Hoffnung,
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