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Deine Stimme in meinem Kopf - Roman

Deine Stimme in meinem Kopf - Roman

Titel: Deine Stimme in meinem Kopf - Roman
Autoren: Deuticke
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auf die Stadt und das Empire State Building inmitten des Häusermeers eine ähnliche Offenbarung für mich wie damals in
West Side Story
für Richard Beymer der Augenblick, als sein Blick in dem überfüllten Raum plötzlich auf Natalie Wood fiel. Der Rest der Stadt verblasste. Es gab nur noch uns zwei, das Empire State, das fast bis zum Himmel ragte, und mich, die ich über meine Verhältnisse lebte. Ich bin nur einen Meter fünfundfünfzig groß. Ich betrachtete den Wolkenkratzer und hatte das Gefühl, er würde mich beschützen – und mir Sachen vom obersten Regalfach reichen, an die ich selbst nicht kam.
    Rechts vom Empire State Building steht das massige MetLife Building, das wie der dicke und lustige beste Freund des Empire State Building wirkt. Ich kann auch das Chrysler Building mit seiner sechsgeschoßigen Stahlkrone sehen, spitz und schmal wie ein Louboutin-Stiletto. Ich sehe Carrie Bradshaw als Riesin vor mir, die auf dem Rücken liegt und einen Schuh in die Luft streckt, während sie leise heiße Tränen weint, da Big ihr gesagt hat, sie sei ihm zu anstrengend. Erstaunlich, dass ich hier oben gelandet bin und unter vielen anderen Gebäuden ausgerechnet auch dieses Krankenhaus sehen kann – ebenso erstaunlich wie die Tatsache, dass ich noch lebe und es überhaupt noch sehen kann.
    »Jetzt sind Sie ja nicht mehr hübsch für Ehemann!«, schimpfte der indische Krankenpfleger an jenem schrecklichen Tag im März, während er meine Schnittwunden begutachtete und mir eine Infusionsnadel in die Armbeuge stach. Ich sage »schrecklich«, weil er das für alle war, die mich liebten. Für mich war der Tag aber nicht schrecklich, sondern genau so, wie ich es erwartet hatte. Ich hatte mich auf ihn gefreut. Mein Endspiel!
    Als sie mir den Magen auspumpten, versuchten sie sich zusammenzureimen, ob die Narben an meinem Arm etwas mit dem Selbstmordversuch zu tun hatten. Hatten sie nicht. Ich hatte sie mir über Tage, Wochen und Monate zugefügt. Eine Graffiti-Künstlerin, die sich mitten in der Nacht zu ihrer Lieblingsmauer schleicht. Ich ritzte mich regelmäßig, meist mit Rasierklingen und hauptsächlich am Arm, manchmal aber auch an den Oberschenkeln, in letzter Zeit auch am Hals, im Nacken und im Gesicht – und einmal sogar am Bauch, mit großer Entschlossenheit. Mit sechzehn habe ich mit dem Ritzen begonnen.
    »Und wann fing die Bulimie an?«, fragte Dr. R, der mit seinem viel zu hoch gezogenen Hosenbund auf seinem ledernen Drehstuhl saß. Seine Stirn war so stark gewölbt, als wollte das Gehirn herausspringen und sich zwischen uns legen – wie ein galant ausgebreiteter Umhang, der mir über meinen psychiatrischen Sumpf hinweghelfen sollte.
    »An dem Tag, an dem ich nach New York zog.«
    »Da hielten Sie es plötzlich für eine gute Idee?«
    »Ja, glaub schon. So ähnlich wie die Höhlenmenschen, als sie damals das Feuer entdeckten.«
    Er lachte. Er hatte ein nettes Lachen.
    Und es war ja auch lustig. Da zog ich in die größte Stadt der Welt, verschanzte mich in meinem Apartment und futterte Unmengen von Kuchen. Und kotzte sie wieder aus. Es war ein jämmerliches Leben, doch ich fühlte mich unfähig, damit aufzuhören. Bulimie ist der böse Zwilling vom Orgasmus. Penetration und dann der Verlust jeder Kontrolle. Der sogenannte kleine Tod,
la petite mort
.
    »Ihre Mutter glaubt«, sagte er, und seine eintönige Stimme mit dem Midwest-Einschlag ließ jeden Satz sachlich und nüchtern klingen, »dass New York das in Ihnen zum Vorschein gebracht hat.«
    »Ja, o ja, klar. Aber ich denke, New York hat das ganz gut gemacht. Wie damals im Mittelalter, als man Blutegel ansetzte ...«
    »Die das Fieber an die Oberfläche saugten?«
    Es gab echt keine Anspielung, die er nicht verstand. Egal, ob es um Musik, Kino oder Emotionen ging.
    »Ja, ich bin dieser Stadt unendlich dankbar. Sie war schon immer da, diese Traurigkeit – mit zwölf saß ich zum Beispiel nachts im Bett und betete, sterben zu dürfen –, doch bevor ich hierher gezogen bin, habe ich es nie ausgesprochen.«
    Dr. R drehte sich auf seinem Stuhl. »Ich denke, man kann sagen, dass die Kombination aus Ritzen und Bulimie als eine Art Speedball fungierte, das diesen Event letztendlich auslöste.«
    Event? Das klang nach Event-Management! Ich fand, dass das, was ich getan hatte, dank seiner Wortwahl gleich viel weniger erschreckend klang.
    Er hatte recht. Ich hatte meine täglichen Telefonate mit Mum eingestellt. Früher hatten wir uns immer drei- bis viermal pro
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