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Deine Stimme in meinem Kopf - Roman

Deine Stimme in meinem Kopf - Roman

Titel: Deine Stimme in meinem Kopf - Roman
Autoren: Deuticke
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auf.«
    Keiner seiner Patienten ahnte, dass er krank war, und erst recht nicht, dass er Lungenkrebs hatte. Die ganzen neun Monate, von der Diagnose bis zu seinem Tod, verschwieg er es uns und eilte nach jeder Chemo in seine Sprechstunde zurück. Den einen oder anderen Termin sagte er ab, weil er sich nicht »auf dem Damm« fühlte. Unser letztes Gespräch fand statt, als ich ihn – wie so oft in unseren gemeinsamen acht Jahren – anrief, um ihn zu warnen, dass mein Scheck platzen könnte (Hypermaniker: können nicht mit Geld umgehen).
    »Da mache ich mir gar keine Sorgen, Emma«, antwortete er. Er hatte noch ungefähr drei Wochen zu leben.
    Als ich von meinem Besuch bei GH in New York zurückkehrte, rief ich die E-Mails einer Adresse ab, die ich eigens eingerichtet hatte, damit mir die Leserinnen und Leser über meine Website schreiben können.
    21. Mai 2008
    Emma,
    als ich neulich auf Google ein »Kondolenzbuch für Dr. R« einrichtete, stieß ich auf einen Ihrer Artikel. Ihre Offenheit und Klarheit haben mich tief beeindruckt. Ich bin der Schwager von Dr. R, und ich weiß nicht, ob Sie schon wissen, dass er vor zwei Wochen verstorben ist, nach einem neun Monate langen Kampf gegen den Krebs. Ja, er war ein wahrhaft großer Mann, der seiner Familie schmerzlich fehlen wird. Sie werden viele Erinnerungen an ihn finden, wenn Sie in Google »Kondolenzbuch für Dr. R« eingeben.
    John Crawford
    Später an diesem Tag bekam ich eine Mail von Dad. Es war kein Dreieck.
    Mum hat vorhin mit dir telefoniert und mir die traurige Nachricht erzählt. Ich bin traurig, weil er dir so geholfen hat, und weil ich weiß, wie sehr du an ihm hingst und ihm vertraut hast. Ich weiß nicht, wem als Erstem auffiel, dass gute Menschen jung sterben, aber es scheint tatsächlich mehr als nur eine statistische Ausnahmeerscheinung zu sein.
    Nachdem ich von Dr. Rs Tod erfahren hatte, rief ich den Anrufbeantworter, der keine Nachrichten entgegennahm, noch mehrmals an, immer und immer wieder – wie wenn man auf der Suche nach Essen, das gar nicht da ist, die Kühlschranktür immer wieder auf- und zumacht. Wenn ich nur oft genug anrief, würde er irgendwann vielleicht doch da sein. Ich rief so lange an, bis der Anschluss eines Tages abgeschaltet war und ich außer meinem eigenen Atem nichts mehr hörte.
    5. Juni 2008
    Mit tiefer Betrübnis schreibe ich diese Worte. Dr. R hat meinen Sohn von seiner höchst gefährlichen Drogensucht geheilt. Er hat ihm das Leben gerettet und ihn uns zurückgegeben.
    Seit damals ist, während der letzten zwölf Jahre, kaum eine Woche vergangen, ohne dass sie einander sahen oder, wenn mein Sohn verreist war, miteinander telefonierten. Dr. R wurde zu seinem Mentor, engen Freund und Coach. Wie alle, die das Privileg hatten, von ihm betreut zu werden, war mein Sohn wie vor den Kopf gestoßen, als er von Dr. Rs Ableben erfuhr, und er hat sich bis heute nicht von diesem Schock erholt.
    H (NEW YORK, NY)

2. Kapitel
    Ich sitze in meinem alten New Yorker Apartment im siebzehnten Stock und schreibe. Von hier aus kann ich das Krankenhaus sehen, in das ich nach meinem Selbstmordversuch eingeliefert worden war, nur wenige Wochen nach meinen ersten Sitzungen bei Dr. R. Er kam mich besuchen. Ich lag im Bett, an einen Monitor angeschlossen, als sie mir den Rücken zudrehten und meine Mutter ihm meinen Abschiedsbrief zeigte, den er kurz überflog und ihr dann zurückgab.
    »Es tut mir leid«, sagte er. »Ich dachte, es ginge ihr besser.«
    Es ist wichtig für mich, dass mein Retter gleich zu Beginn einen Fehler gemacht hat. Das machte ihn in meinen Augen kleiner und menschlicher. Als er mir an jenem ersten, blutigen Tag Zoloft verschrieb und meinen Zustand überwachte, glaubte er, ich sei keine Gefahr mehr für mich selbst. Aber er hatte sich getäuscht.
    Die Sanitäter brachten mich ins St Vincent’s Hospital, nachdem meine Mitbewohnerin mich bewusstlos vorgefunden hatte. Sie hatte mich nicht gleich entdeckt, weil ich ohnmächtig geworden und in einen geöffneten Koffer gefallen war, den ich noch gar nicht ausgepackt hatte. Drei Monate lang hatte ich es nicht geschafft. Nachdem man mir den Magen ausgepumpt hatte, wurde ich rund um die Uhr bewacht. Eine betrunkene Nonne hielt Sitzwache bei mir, und sie kam sogar mit, wenn ich auf die Toilette musste. »Jesus liebt dich!«, lallte sie. Ich stellte mir Jesus als Spanner auf dem Klo vor, keuchend und mit ungewaschenen Haaren.
    Als ich dieses Apartment zum ersten Mal betrat, war der Blick
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