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Dein Name

Titel: Dein Name
Autoren: Navid Kermani
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allmählich vergrößern, um gegen Ende, wenn noch wenige übrig sind, wieder abzunehmen. Vielleicht sterben die Menschen auch in Schüben. Keine zwanzig Minuten im Wartezimmer, muß der Romanschreiber um 10:38 Uhr schon wieder abbrechen, da die Frau aus dem Behandlungszimmer humpelt. Ist etwas schiefgelaufen? Bevor es morgen abkühlt, geht er heute nachmittag mit der Tochter noch einmal ins Freibad. Die Frau, die sich auf dem Weg zur Sportklinik noch bereit erklärte, sie zu begleiten, traut sich jetzt doch nicht. Wenn sie das Bein letzte Woche nicht einmal in die Badewanne tauchen durfte, könne sie nicht diese Woche schon im Chlorwasser schwimmen. Daß sie sich ungern mit Stützschuh und Bikini zeigt, hätte sie nicht hinzufügen müssen. Erst wenn die Tochter schläft, kann er heute ins Büro, das eine Wohnung zu werden scheint. Die Datei hat er Totenbuch genannt. Jaja, bin schon fertig. Wenigstens hat er Ursula getroffen.
    Den Heuschnupfen erwähnte er bereits. Wenn es kein Tagebuch ist, muß er Wiederholungen vermeiden, wo sie nicht nötig sind. Er hat einen Leser, wen auch immer, den er im Auge behalten muß, obwohl er gleichzeitig leugnet, ihn zu sehen. Ist das nicht bei allen Romanen so, die er schrieb? Den Unterschied zu benennen, verschiebt er auf einen späteren Absatz, da er endlich mit der Handlung beginnen muß, möchte er den Leser je finden, dessen Existenz er abstreitet. Sehen Sie, um ohne Vorsatz die direkte Ansprache einzuführen, sehen Sie großgeschrieben, wie rasch er seine Vorsätze bricht? Er schreibt, daß er sich Ihnen zuliebe nicht mehr wiederholen darf und wiederholt sich … er zählt nach … nach sechs Sätzen erneut. Vor dem ersten Kapitel muß der Romanschreiber allerdings noch Ursula wiedersehen. Baso Matsu hin oder her, muß er außerdem die Entscheidung treffen, ob der Roman, den ich schreibe, auch Djavad Ketabi bedenkt. Nicht alle Toten finden Platz, denen der Romanschreiber im Leben begegnet ist – allein, nach welchem Kriterium wählt er sie aus? Genügt die lange Bekanntschaft? Dann würde Djavad Ketabi ein Kapitel sein. Die Bedeutung im Leben? Dann wüßte der Romanschreiber selbst nicht, was das Kapitel außer einer Begegnung vor dem Gästezimmer des elterlichen Hauses enthalten könnte. Nein, Bekanntschaft läßt sich als Kriterium nicht durchhalten, nicht einmal Verwandtschaft. Wieviel Grad, Meter, Liter, Gramm, Bytes oder Protonen muß jemand ihm bedeutet haben, damit der Romanschreiber »wohlverdient« nachruft, »verstorben«, »ruht« oder, wie im frühesten Christentum üblich, »schläft in Frieden«: dormit in pace ? István Eörsi war ihm wichtig, schon bevor er ihn kennenlernte – aber würde der Roman, den ich schreibe, Eörsi bedenken, hätte der Romanschreiber nur Eörsis Bücher gelesen? Andererseits die Heroen seiner Bildung und Begeisterung, denen er nur in Büchern oder Museen, auf Schallplatten oder Leinwänden begegnet ist – käme ihnen ein Kapitel zu, wenn eines Morgens die Zeitung einen Nachruf brächte oder vorab schon die mailing list der Fangemeinde die Nachricht ihres Todes? Wie er es auch wendet, der Romanschreiber kann es nicht entscheiden. Er kann nicht entscheiden, nach welcher Einheit sich Bedeutung bemißt. Er kann lediglich feststellen, daß Djavad Ketabi ihm nicht nichts bedeutet und dessen Tod ihn nicht nicht unberührt gelassen hat. Genügt es, daß etwas nicht nichts war, so wie es von Gott genügt zu sagen, daß es keinen anderen Gott gibt? Ja, die Winterkataloge liegen bereits vor, erfährt der Romanschreiber, als er am 14. Juni 2006 um 10:19 Uhr das Reisebüro anruft. Damit diesen Herbst gar nicht erst diskutiert wird, wird er sich und der Tochter so früh wie möglich einen Skiurlaub ohne Reiserücktrittsversicherung buchen. Auf dem Weg zum Reisebüro kann er im Baumarkt das Verbindungsstück zwischen dem Gartenschlauch und dem Wasseranschluß in der Küche besorgen, das nicht mehr hält. Zwei Erledigungen sind mehr als genug, um einen Vorwand dafür zu haben, die Entscheidung ein weiteres Mal zu vertagen, ob der Roman, den ich schreibe, auch Djavad Ketabi mit einem Kapitel bedenkt. Schritt für Schritt, wie der Arzt auf der Intensivstation sagte.
    Wenn er formulierte oder auch nur andeutete, was ihn am Donnerstag, dem 15. Juni 2006, um 16:32 Uhr
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