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Dein Name

Titel: Dein Name
Autoren: Navid Kermani
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Bedürfnis, in seinem Tagebuch Chronik zu führen, und als Vater vergißt er bei Ausflügen und Urlaubsfahrten notorisch die Kamera. Die Schmierzettel wirft er später fort, sie dienen nur dazu, die Handlung zu finden für das Gedächtnis, das er verrichten will. Aus Furcht, schon bald der Tante einen Namen geben zu müssen, zögert er den Anruf hinaus. Immerhin erwähnte der Vater, daß sie vormittags nicht erreichbar sei. Wenn sie selbst zum Arzt gehen kann, liegt sie jedenfalls nicht im Sterben. Andererseits muß es dringend sein, wenn sogar der Vater ihn bittet, in Teheran anzurufen. Die Eltern sind sonst unsentimental bis zur Erbarmungslosigkeit, wenn es ums Altern anderer Leute geht. Er kann die Frage nicht unterdrücken, wann er die Eltern bedenken wird und ob den Vater oder die Mutter zuerst. Die Tochter drängt am Telefon, er solle sie endlich abholen, um mit ihr ins Freibad zu gehen. Viertelstunde noch, sagt er. Zehn Minuten setzt sie durch. Er muß sich beeilen. Ich will den Roman nicht schreiben.
    Aus der Stimme der Tante, sosehr sie sich um Zuversicht bemüht, hört er das Entsetzen heraus. Ihr Gesicht ist schief, sie kann nicht mehr richtig essen und sprechen. Die Ärzte vermuten, daß sie sich auf dem Rückflug nach Iran verkühlt habe. Sie selbst hat Angst, daß es ein Schlaganfall war. Am Montag, dem 12. Juni 2006, ist es 12:42 Uhr, als die Tante auflegt. István Eörsi wird das erste Kapitel heißen, über den er noch am ehesten etwas zu sagen hat, danach Claudia Fenner, Friedrich Niewöhner, Georg Elwert. Davor ist zu entscheiden, ob der Roman, den ich also schreibe, auch Djavad Ketabi bedenkt, und zweitens, über welches Gemälde der Romanschreiber nachdenkt, da Funk und Fernsehen ihren Beitrag längst geliefert haben, wie der Direktor nochmals mahnte, der ihn durchs Museum führte. Um 12:46 Uhr klingelt das Handy, auf dem Display der Name der Frau. Der Romanschreiber schiebt es auf und klemmt das Gerät zwischen Schulter und Wange. Sosehr sie sich angestrengt habe, alle Unbill zu ertragen, aber der blaue, klobige und bei der Hitze auch noch erbärmlich stinkende Stützstiefel, der gestern den Gips ersetzt hat, sei zuviel, heult die Frau um 10:51 Uhr zu laut, um die Tastatur hören zu können, auf der er um 10:52 Uhr dennoch zu tippen aufhört. Um 10:54 Uhr beendet er das Telefonat mit der Einladung, in sein Büro zu humpeln, damit er sie in den Arm nimmt, obwohl der Arbeitstag mit dem Schulschluß der Tochter um 12:40 Uhr schon wieder zu Ende sein wird, um vier die Eigentümerversammlung, danach holt er die Tochter vom Judo ab, um sie mit zum Rundfunk zu nehmen, wo er für eine vierminütige Meinung einen guten Tageslohn verdient zuzüglich sieben Prozent für die Pensionskasse. Einen anderen Verdienst hat er nicht, seit er seine Meinungen nicht mehr schriftlich zu begründen vermag. Selbst als die Frau auf der Intensivstation lag, ist er öfter auf den Flur gegangen, um für oder gegen etwas zu sein – für einen Tageslohn in vier Minuten zuzüglich sieben Prozent kriegt er sich immer in den Griff. Indem er sich von einem Satz zum darauffolgenden bewegt, Schritt für Schritt, wie der Arzt auf der Intensivstation sagte, hofft er als nächstes die Beschaffenheit des Romans herauszufinden, den ich schreibe. Es ist das erste Mal, daß er vor der ersten Seite anfängt und zugleich ausschließt, jemals zu einem Ende zu gelangen. Die Abfälle, die er womöglich zwischen den Kapiteln weiter anhäuft, würde er auf Lesungen damit erklären, daß durchs Leben auch keine Müllabfuhr fährt. Die Frau klingelt an der Tür. 12:56 Uhr. Baso Matsu hin oder her muß er spätestens morgen die Entscheidung treffen, ob der Roman, den ich schreibe, auch Djavad Ketabi bedenkt.
    Vor dem Interview am gestrigen 12. Juni 2006 erfuhr Navid Kermani, daß György Ligeti tot ist, möge seine Seele froh sein. Wie vorgesehen gab er dem Moderator Auskunft, nicht einmal die Stimme zitterte, und schaute sich anschließend Italien gegen Ghana an, ordentliches Spiel, nur daß am Ende immer die Afrikaner verlieren. Vier Tage nur, schon hat der Roman, den ich schreibe, ein weiteres Kapitel, das fünfte oder sechste, je nachdem, ob er Djavad Ketabi bedenkt. Die Frequenz wäre nicht einmal im Alter normal. Vermutlich wird sich der Abstand zwischen zwei Kapiteln in den nächsten Jahren
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