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Dein Name

Titel: Dein Name
Autoren: Navid Kermani
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diskutierten. Es war die beste, die wichtigste Debatte, die ich in den drei Berliner Jahren zustande gebracht habe.
    Eörsis Zusage war wichtig, weil die beiden Ungarn am Kolleg, Péter Nádas und der damals frisch gekürte Nobelpreisträger Imre Kertész, nicht die fünfzig Meter vom Hauptgebäude in die Villa Jaffé zu laufen bereit waren. Nádas entschuldigte sich mit Arbeit, Kertész nicht einmal damit. Ohne Eörsi wären die europäische Literatur und die Schoa nicht anwesend gewesen in dem vielleicht vierzigköpfigen Kreis aus arabischen Intellektuellen, Fellows aus aller Welt und deutschen Journalisten, die in der Villa einer enteigneten jüdischen Familie im Grunewald über das Schreiben nach und mit der Vertreibung nachdachten. Das Gespräch hätte nicht stattfinden dürfen, so schien es mir, oder wäre mißlungen. Eörsis Bemerkungen und Fragen irritierten und bewegten insbesondere die arabischen Gäste so sehr, daß ich seine beiden Landsleute nicht mehr vermißte.
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    Das genügt. Ehrenrühriges, Geheimnisse, Mißbilligungen, auch wenn dergleichen vorläge, wird der Romanschreiber grundsätzlich vermeiden beziehungsweise auf die Schmierzettel beschränken, die zwischen den Kapiteln liegen. Wer tot ist, dem redet er nicht nach. Abgesehen davon, dürfen die Gedächtnisse nicht zu ausführlich geraten. Er würde sie nicht bewältigen und nach einer Zeit aufgeben. Bei manchen Menschen, die ihm dennoch etwas bedeuten, würde ihm gar nicht genügend einfallen. Engen Freunden oder Verwandten hingegen müßte er ein ganzes Buch widmen, wollte er sie im gleichen Maßstab bedenken. Er muß realistisch sein, kühl kalkulieren, wenn er überhaupt eine Chance haben möchte. Er muß für die Jahre vorsorgen, wenn er an die Notwendigkeit nicht mehr glaubt, jedes Menschen zu gedenken, der ihm auf Erden fehlt, und die Pflicht lästig zu werden beginnt; wenn die Toten stören, weil er mit einem Roman beschäftigt ist, wie er ihn früher schrieb, oder etwas anderem, das er für wichtiger hält. Die letzten Tage hat er häufig überlegt, ob alle Toten ungefähr den gleichen Platz erhalten oder ob er die Länge, je nach Grad, Meter, Liter, Gramm, Bytes oder Protonen, variieren soll. Wird es Ehrenplätze geben oder ausschließlich Reihengräber? Wenn einem Bekannten, sagen wir, zehntausend Anschläge zustünden – mit wieviel Anschlägen gedächte der Romanschreiber später der Mutter, dem Vater? Unterschiede würden den Eindruck erzeugen, daß Angemessenheit möglich sei. Geeigneter erscheinen formale Beschränkungen, Mindest- und Höchstzahl von Anschlägen, knappes ritualisiertes Gedenken, gleich wie groß die Trauer. Ihm gefallen die traditionellen Friedhöfe in Iran, die ohne Zier sind oder jedenfalls waren, graue Platten im Staubfeld, bevor 1980 die Fließbandproduktion der Märtyrer anlief, die mit Glaskasten belohnt werden, vergrößerte Paßphotos darin. Die traditionellen Friedhöfe gaukeln keine Individualität vor. 7102 Anschläge ist sein Gedächtnis lang. Auf neuntausend kann er noch gehen.
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    Eörsis letztes, posthum erschienenes Buch wird in Deutschland wieder keiner lesen. Es ist seine Art Autobiographie, und nimmt man ihre Dringlichkeit, müßte man so gut wie alles andere weglegen, was sonst in einer Saison auftritt. Wenigstens ist es bei Suhrkamp erschienen, nicht im rosa Umschlag, und wurde von einem der fünf überregionalen Feuilletons besprochen. Daß er an diesem Roman gearbeitet haben muß, als wir uns kennenlernten, rückt ihn noch einmal in ein anderes Licht. Die Lektüre bereitete Unbehagen bis hin zum Körperlichen, so ehrlich ist er darin, ohne Gnade für sich selbst. Die Ehrennadeln, die er sich auf Empfängen gefallen lassen mochte (Überlebender, Verfolgter, Genießer), entsorgt er als erstes. Indem er sich aus der Perspektive einer jungen Reporterin beschreibt, wird er zum alten Bock, eitel und eingebildet, lüstern und voller Selbstmitleid. Zurück bleibt keine Persönlichkeit, sondern ein Elend. Natürlich ist das nicht alles an ihm, selbst er hätte sich soviel Wohlwollen zugestanden. Allein, es ist nicht die Aufgabe der Literatur, alles zu schreiben. Die Aufgabe der Literatur ist das, was nicht sein soll. Eörsi hat es an seiner eigenen Person exerziert. Andere hätten
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