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Dein Name

Titel: Dein Name
Autoren: Navid Kermani
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Beschauliches zusammengetragen. Er hat sich ein Denkmal gesetzt, indem er es zerstörte.
    Er wird nicht geahnt haben, vermute ich, daß er die Veröffentlichung nicht mehr selbst erleben würde. Er mußte davon ausgegangen sein, daß er auch weiterhin Empfänge besuchen würde, in Berlin wie in Budapest. Wer das Buch gelesen hat, hätte nicht mehr unverbindlich mit dem osteuropäischen Schriftsteller anstoßen können. Er hätte den Mensch vor sich gesehen, einen großen und gräßlichen, lustigen und lächerlichen, einen schonungslosen und schockierenden Menschen. Indem Literatur nur das Schwarze sieht, ermöglicht sie dem Leser, alle Farben zu sehen.
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    8935 Anschläge inklusive Leerzeichen. Von nun an kann er unter zehntausend bleiben. Das ist zu bewältigen. Verfaßte er von allen Menschen eine Biographie, die in seinem Leben sterben, wäre er nur noch mit dem Tod beschäftigt. Das kann nicht verlangt sein. Als nächstes bedenkt er Claudia Fenner. Photos muß er noch besorgen, weil die Illusion zum Roman gehört, den ich schreibe. Würde das Buch je gedruckt und gebunden, könnte zu Beginn jedes Kapitels ein ganzseitiges Photo stehen, am besten auf einer rechten Seite. Aber wohin damit jetzt? Hundert Kapitel, die ein erster Band mindestens enthalten müßte, um einen Verlauf anzuzeigen, dauern im Leben mindestens zehn oder fünfzehn Jahre. Soll er die Photos in einer Kiste lagern solange? Nein, er wird sie im Kopiergeschäft einscannen lassen. Digitalisiert würde er sich vor der Sammlung nicht mehr gruseln. Für das Photo von Claudia Fenner muß er sich etwas einfallen lassen. Georg Elwert hat ihm die Presseabteilung der Freien Universität Berlin bereits geschickt. Friedrich Niewöhner und István Eörsi sollten auf dem Weg sein, György Ligeti findet sich bestimmt im Internet. Ein Bild von Djavad Ketabi müßte er sich bei den Eltern in Siegen besorgen können, gegebenenfalls auch von der Tante. Ein Soziologe aus Frankfurt ist ihm noch eingefallen, der seines Wissens noch nicht tot ist, aber bald stirbt. Ja, er will so vieler gedenken wie möglich. Je knapper die Kapitel, desto mehr können es werden. Donnerstag, 22. Juni 2006, 12:28 PM . Von der Schule aus geht er mit der Tochter Bücher kaufen für den Urlaub, der damit beginnt, daß er die Frau zur Klinik der Heiligen Margarete fährt, die auf die Folter gespannt und auf grausame Art zuerst mit Ruten geschlagen, der dann mit eisernen Kämmen das Fleisch bis auf die Knochen abgerissen wurde, so daß das Blut von ihrem Leib wie aus einem klaren Quell floß. Ein anderes Mal zog man ihr vor allen Leuten die Kleider aus, versengte ihr den Leib mit brennenden Fackeln, anschließend fesselte man sie und warf sie in einen Behälter voll Wasser, damit ihr Schmerz durch diese entgegengesetzte Art der Folterung noch zunehme. »Bruder, hebe dein Schwert und schlage zu«, rief sie dem Henker zu, der ihr die Krone der Märtyrer aufs Haupt setzte.
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    Als sie starb, wußte ich von Claudia Fenner so gut wie nichts. Weniger traurig als perplex machte mich die Nachricht, weil unser Kennenlernen vor der Sommerpause eine Ankündigung war. Als nächstes erhielt ich jedoch die SMS ihrer Kollegin, die ich mitsamt Uhrzeit in der Kurzmitteilung nachschlagen kann. Nur die Namen muß ich austauschen: Tut mir leid, es dir so zu sagen, kann jetzt aber nicht anders. Meine kollegin claudia fenner ist gestorben, die mit uns noch whisky trinken war. Einfach so. Ich weiß gar nichts mehr. Liebe grüße. Als sie starb, hatte ich zwei Möglichkeiten außer fortzufahren, als wäre nichts gewesen (aber da war etwas gewesen). Ich konnte aufschreiben, was ich über Claudia Fenner erfahren würde, oder eine Tote erfinden, die auf gleiche Weise, in gleicher Entfernung gestorben ist. Ich entschied mich, nicht nach Claudia zu suchen. Ich fürchtete, auf etwas zu stoßen, was sie oder die Angehörigen nicht gern veröffentlicht gesehen hätten, wollte kein Eindringling sein in fremder Menschen Leben. Vor allem jedoch merkte ich, daß es mir um meine Empfindung oder Unempfindlichkeit ging, nicht um sie, die ich schließlich kaum kannte.
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    Claudia Fenner (18. September 1964; 10. Juli 2005 Köln) ( Bildnachweis )
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    Heraus sprang Maike Anfang, die mit Claudia auf den ersten Seiten wenig und am Ende nicht mehr gemein hatte als das
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