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Defekt

Defekt

Titel: Defekt
Autoren: Patricia Cornwell
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Gewaltphantasien ausgedrückt hat.
Zumindest lautet so die Ausrede der meisten forensischen Psychologen und
Psychiater. Wahrscheinlicher jedoch ist, dass ihnen der Mut und die
Bereitschaft fehlen, sich auf die Opfer einzulassen oder - noch schlimmer -
Zeit mit ihren verstümmelten Leichen zu verbringen.
    Benton ist anders. Nach mehr als einem Jahrzehnt mit
Scarpetta gibt es für ihn keine Möglichkeit, nicht anders zu sein.
    Sie haben kein Recht, an einem
Fall zu arbeiten, ohne sich anzuhören, was die Toten Ihnen zu sagen haben, hat sie vor über fünfzehn Jahren verkündet, als sie
gemeinsam ihren ersten Mord aufklärten. Wenn Ihnen das zu lästig ist, habe ich offen gestanden auch
keine Lust, mich mit Ihnen abzugeben, Special Agent Wesley.
    Da mögen Sie Recht haben, Dr.
Scarpetta. Dann machen Sie mich mit den Opfern bekannt.
    Also gut, erwiderte sie. Kommen Sie mit.
    Noch nie zuvor hatte Ben ton den Kühlraum einer
Leichenhalle betreten, und er hört bis heute das laute Klappern, wenn der Griff
des Kühlfachs zurückgezogen wird, und das Zischen der kalten, übel riechenden
Luft. Diesen Geruch, den muffigen, fauligen und abgestandenen Gestank des
Todes, der schwer in der Luft liegt, würde er überall wiedererkennen. Benton
stellt ihn sich vor wie eine Art schmutzige Nebelschwade, die sich, ausgehend
von dem toten Körper, langsam in Bodenhöhe ausbreitet.
    Benton lässt das Gespräch mit Basil noch einmal
Revue passieren und analysiert jedes Wort, jede Zuckung und jedes Mienenspiel.
Gewaltverbrecher sind sehr großzügig mit ihren Versprechungen. Um ihren Willen
durchzusetzen, zögern sie nicht, ihre Mitmenschen zu belügen, dass sich die
Balken biegen. Zum Beispiel behaupten sie, das Versteck einer Leiche zu kennen,
geben unaufgeklärte Verbrechen zu, schildern die Tat in allen Einzelheiten
und erläutern ausführlich ihre Motive und ihren Seelenzustand. Meistens sind es
nichts weiter als Märchen. Aber in diesem Fall ist Bentons Argwohn geweckt,
denn zumindest ein Teil von Basils Geständnis erscheint ihm echt.
    Als er versucht, Scarpetta auf dem Mobiltelefon zu
erreichen, meldet sie sich nicht. Ein paar Minuten später versucht er es
erneut, wieder vergeblich.
    Er hinterlässt ihr eine Nachricht: „Bitte ruf mich
sofort zurück.“
     
    Die Tür öffnet sich, und mit dem Schnee wird eine
Frau hereingeweht wie von einem Windstoß.
    Sie trägt einen langen schwarzen Mantel, den sie
abklopft, wobei sie gleichzeitig die Kapuze zurückschiebt. Ihre helle Haut ist
von der Kälte gerötet, ihre Augen strahlen. Sie ist hübsch, sogar
außergewöhnlich hübsch, und hat dunkelblondes Haar, dunkle Augen und eine
Figur, die sie nicht versteckt. Lucy beobachtet, wie sie mit gleitenden
Schritten in den hinteren Teil des Restaurants verschwindet. In ihrem langen
schwarzen Mantel, der ihre schwarzen Stiefel umflattert, erinnert sie an eine
Pilgerin mit erotischer Ausstrahlung oder an eine sinnliche Hexe. Sie steuert
schnurstracks auf den Tresen zu, wo mehr als genug Barhocker frei sind. Doch
sie entscheidet sich für den direkt neben Lucy, faltet ihren Mantel zusammen
und setzt sich darauf, ohne ihre Sitznachbarin eines Wortes oder eines Blicks
zu würdigen.
    Lucy trinkt einen Schluck Tequila und starrt,
scheinbar brennend interessiert an der neuesten Prominentenromanze, auf den
Fernseher über der Theke. Buddy mixt der Frau einen Drink, ohne sie fragen zu
müssen, was sie trinken will.
    „Ich möchte auch noch einen“, sagt Lucy sofort.
„Wird gemacht.“
    Die Frau mit dem schwarzen Kapuzenmantel mustert fasziniert
die bunte Tequilaflasche, die Buddy aus dem Regal holt. Aufmerksam sieht sie
zu, wie die bernsteinfarbene Flüssigkeit in einem zarten Strahl in den
Cognacschwenker rinnt. Als Lucy den Tequila im Glas kreisen lässt, dringt ihr
der Geruch in die Nase bis hinauf ins Gehirn.
    „Von dem Zeug kriegst du Kopfschmerzen, die sich gewaschen
haben“, warnt die Frau mit dem schwarzen Kapuzenmantel. Ihre Stimme klingt
rau, verführerisch und geheimnisvoll.
    „Tequila ist viel reiner als der meiste Alkohol“,
erwidert Lucy. „Diesen Ausdruck habe ich übrigens schon lange nicht mehr
gehört. Die meisten Leute sagen einfach nur >höllisch<.“
    „Die scheußlichsten Kopfschmerzen hatte ich mal von
Margaritas“, fährt die Frau fort und nippt an dem rosafarbenen, giftig
aussehenden Cosmopolitan in ihrem Champagnerglas. „Außerdem glaube ich nicht an
die Hölle.“
    „Das wirst du schon noch, wenn du weiter
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