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de profundis

de profundis

Titel: de profundis
Autoren: Viktor Jerofejew
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die Glocken, die Kirchen sind restauriert, doch Lisa zögert, sich der triumphierenden Kirche in die Arme zu werfen.
    »Lisa hat gleich die Annäherung zwischen Kirche und Staat gespürt.« Anja kommt in die Küche zurück. »Hast du noch Wein da?«
    »Ja, dieses Kultivieren der orthodoxen Religion gefällt mir gar nicht«, sagt Lisa stirnrunzelnd.
    Neben Liedern möchte Lisa auch Bücher schreiben. Sie hat bereits ein Sujet für ihren ersten Roman und sogar schon einen Soundtrack geschrieben. Der Roman heißt »Eine Frau und eine Frau«.
    »Für das erste Honorar kaufe ich mir rosa Stiefel!«, träumt Lisa. »Willst du wissen, was ich mir zum Geburtstag wünsche? Chanel Nr. 5!«
    »Alles klar«, sage ich.
    Lisotschka zieht einem das Geld aus der Tasche, wenn auch nicht übertrieben. Ich erinnere mich noch an Lisa als Achtjährige. Sie war schon damals ein begabtes Mädchen mit strahlenden Kulleraugen. Anja zeigte mir einmal Lisas Geschichte vom Elefanten und vom Tiger. Die Geschichte hatte etwas Prophetisches, obwohl, was genau, blieb im Dunkeln. Lisa begann sich schon mit vier Jahren für Sex zu interessieren und reagierte sehr beleidigt auf die Eltern, als diese in ihrer Anwesenheit Liebe machten. Sie hat bereits eine unglückliche Liebe mit einem »sehr schöpferischen Menschen« hinter sich; sie hat etwas zu erzählen.
    »Ich kann nicht sagen, dass eine russische Staatsbürgerin meinen Roman schreibt, denn die Grenzen sind verwischt. Die Handlung spielt in Moskau, aber die Heldinnen sind Europäerinnen, Ehefrauen von verschiedenen Geschäftsleuten. Es gibt ein lesbisches Thema.«
    »Wie steht deine Mutter dazu?«
    »Sie möchte nicht, dass ich das in die Tat umsetze.«
    Anja nickt zustimmend. Ich frage leicht spöttisch:
    »Kann man über lesbische Liebe schreiben, ohne sie erlebt zu haben?«
    »Wer hat gesagt, ohne sie erlebt zu haben?«, wundert sich die Tochter. »Aber ich glaube, so was passiert bei uns meistens als Experiment oder aus Verzweiflung. Nichts kann schöner sein als der weibliche Körper. Ich mag Sex wie jeder normale gesunde Mensch, obwohl es mir nicht egal ist, mit wem. Ich kann das nicht ab, wenn unter extremen Bedingungen was läuft, und Gruppensex kann ich nicht ausstehen. Das ist Verrat an der Intimität in der Liebe.«
    Als es schließlich zum Gruppensex gekommen war, lag Lisanja schmollend auf dem Bett und knackte bunte Drops. Sie war sonst immer diejenige, die bestimmte, wo's langging, und ihr schien, dass sie diesmal beim Sex nicht die erste Geige gespielt hatte. In Wirklichkeit war Poletschka, das Vögelchen, einfach besser.
    »Wir müssen mal ein Hauskonzert für sie organisieren«, schlug die praktische Poletschka vor. »Sie sollte in Nachtklubs singen.«
    Lisa hält nichts von »Altersgrenzen«. Mit fünfzehn hat sie ihre Unschuld verloren (für eine Moskauerin völlig normal; in der russischen Provinz verlieren die Mädchen ihre Unschuld noch früher), und zwar mit einer Zufallsbekanntschaft. Danach legte sie sich einen dreißigjährigen Boyfriend zu, einen erfolgreichen Geschäftsmann, der in einer Stadtvilla wohnt, den sie einmal die Woche trifft und der mit ihr alles außer seinen Geschäften bespricht.
    »Ein Ganove?«, frage ich.
    »Ich glaub nicht«, sagt Lisa etwas unsicher.
    Was die Anzahl der Liebhaber betrifft, so hat sie ihre Mutter noch nicht eingeholt, aber ihren Berechnungen zufolge nähert sie sich der Fünfzigprozentmarke. Anja, dem Journalismus nicht abgeneigt, interviewte mich seinerzeit zum Thema Liebe, während sie im Badezimmer auf dem Fußboden saß und ich bis zur Nasenspitze im Schaum in der Badewanne. Das Interview war für die Zeitschrift »Die Bäuerin«, ein Relikt aus der Sowjetzeit. Es erschien nirgends. Oder täusche ich mich? Das Gedächtnis ist schwach, wenn Liebe im Spiel ist. Sie hatte fürchterliche Schmerzen im Unterleib. Ein grandioses Liebesprojekt war mit Trichomonaden zu Ende gegangen. Sie litt. Zwischen Anja und mir besteht eine alte Seelenverwandtschaft. Zwischen Lisa und mir besteht eine junge Seelenverwandtschaft. Interessante Sache.
    »Und wie ist Lisa? Kann sie's?«
    Wie soll ich sagen? Lisa findet, französische Liebe ist kein Sex.
    »Einmal habe ich es im Theater französisch gemacht. Während der Vorstellung.«
    Lisa macht es gern französisch.
    »Ich finde Schwanzlutschen toll …«
    Es französisch zu machen bedeutet für sie Macht über den Mann auszuüben. Lisa ist ein herrschsüchtiges Mädchen. Einmal kam Lisa beleidigt an.
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