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de profundis

de profundis

Titel: de profundis
Autoren: Viktor Jerofejew
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Roten Platz bin ich unwillkürlich in Tränen ausgebrochen. Nein, warten Sie, ich habe ihn am Haken in der Garderobe hängen lassen.«
    Der Kellner rannte eilfertig die Treppe hinunter.
    »Die Moslems haben Recht. Gott ist groß.« Natalja Alexejewna bewegte die Finger. »Ich bin von der Malerei enttäuscht. Ab sofort nur noch Fotografie. Sterlet. Fischeier. So heißt Kaviar auf Französisch, obwohl es das Wort ›Sterlet‹ in keiner Sprache gibt.«
    Der Kellner kam mit einer großen Plastiktüte zurück.
    »Man hat mir gesagt, Sie seien hier der Freidenker.« Bei ihr klang das wie »Freimaurer«.
    Ich deutete eine Verbeugung an.
    »Warum ist Gott groß? Er ist ein großer Erfinder.« Sie zog den Katalog aus der Plastiktüte. »Man sollte meinen, ein Hymen sieht immer gleich aus. Aber ich habe eine überraschende Entdeckung gemacht: Hymen sind wunderbar vielgestaltig. Eine kleine Spielerei des Allmächtigen. Ich wollte eine Ausstellung zum Ruhme Gottes machen.«
    Ein Riesenschinken. Strenger schwarzer Umschlag. Im Unterschied zu den russischen Aristokratinnen, die mir im Ausland begegnet sind, trug Natalja Alexejewna an jeder Hand nur einen Ring. Ich schlug den Katalog mit seinen Farbabbildungen auf und blickte mich unwillkürlich um. Die Kellner standen verdächtig nahe an unserem Tisch. Natalja Alexejewna präsentierte den russischen Kunstkennern eine ziemlich ungewöhnliche Ausstellung.
    »Jede Fotografie entkleidet. Das ist der Sinn dieser Art von Kunst. Ich habe diesen Weg lediglich bis zu Ende verfolgt. Ich habe lange in Deutschland gelebt und die deutsche Vorliebe für physiologische Prozesse so sehr schätzen gelernt, dass ich angefangen habe, mich für die menschliche Anatomie zu interessieren. Diese Fotografien sind die Frucht meiner Beschäftigung damit. Ich kann Ihnen gern einen Vortrag halten, aber das Lokal hier ist wohl eher ungeeignet. Aber ich möchte Ihnen zumindest sagen, dass sich das Hymen aus einem Mesenchym über dem Müllerschen Epithel entwickelt. Ich habe mit einer Leica gearbeitet. Eine andere Kamera kam für mich nicht in Frage, bis ich Feuer gefangen habe für diese vollautomatischen Dinger, die man bei Ihnen komischerweise »Seifendose« nennt.«
    Ich schlug erneut den Katalog auf.
    »Das sind die Finger meines Mannes«, kommentierte Natalja Alexejewna. »Er ist Amerikaner und Architekt. Die Natur hat mich gelehrt, dass Architekten die besten Ehemänner sind. Jedenfalls bauen sie gern. Sie sind wie Kinder. Andrew kommt aus Los Angeles. Mögen Sie diese Stadt?«
    »Ich habe dort unterrichtet.«
    »An der UCLA?«
    »Nein, gewohnt habe ich in der Nähe der UCLA, unterrichtet habe ich an der USC.«
    »Da mussten Sie aber weit fahren«, sagte sie.
    »Mit dem Bus.«
    »Sie Ärmster.«
    Mir fiel ein, dass sie keine armen Leute mochte, und ich wurde rot. Sie nahm mir den Katalog aus der Hand, blätterte die ersten Seiten durch.
    »Am häufigsten ist das ringförmige Hymen, das ›Hymen anularis‹. Eine proletarische Angelegenheit. Ein Häutchen mit einer Öffnung in der Mitte. Für arme Leute. Schwarze. Unterschicht.«
    Es waren alles Großaufnahmen. Die Finger des amerikanischen Architekten zogen mit aller Kraft die jungfräulichen Fotzen auseinander, so dass die Klitoris auf einigen Fotos verzerrt und merkwürdig horizontal aussah. Aber nicht die Klitoris interessierte Natalja Alexejewna. Sie setzte ihre halbrunde Lesebrille auf und zeigte mir das am meisten verbreitete Jungfernhäutchen.
    »Ihretwegen«, sagte sie, »haben Marx und Lenin sich abgemüht. Obwohl es auch hier einen Unterschied gibt. Das Jungfernhäutchen einer Arbeiterin ist rund. Das einer Bäuerin oval. Das ist ein Gesetz.«
    »Also kann man am Jungfernhäutchen erkennen …«, begann ich.
    »Alles«, sagte Natalja Alexejewna. »Hier gibt es eine Verbindung zwischen Marx und Freud. Wie das Jungfernhäutchen, so auch die Klassenzugehörigkeit. Nicht weniger häufig kommt das Jungfernhäutchen in Halbmondform vor, das, mit anderen Worten, aussieht wie ein Mond, was schon etwas romantischer ist. Ihm ist der zweite Teil der Ausstellung gewidmet. Ich habe viele Mädchen aus verschiedenen Ländern fotografiert. Diese Variante unterscheidet sich von der ringförmigen dadurch, dass es vorn, schauen Sie mal, im Bereich des Epithels, unterbrochen ist. Fragen Sie mich nicht, warum. Gott ist ein Ästhet. Die Öffnung ist exzentrisch. So sieht das Jungfernhäutchen von zukünftigen Verkäuferinnen aus. Und hier, sehen Sie weiter, dies
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