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Das Zimmermaedchen

Das Zimmermaedchen

Titel: Das Zimmermaedchen
Autoren: Markus Orths
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hechelt er nur ungezogen, und Lynn bleibt nichts übrig, als nach draußen zu treten, sich zu bedanken und zu verabschieden von Silvia Maurer, ohne etwas von dem zu sagen, was zu sagen sie sich vorgenommen hat.
    Und Lynn steht allein auf der Straße.
    Sie will nach einem Taxi winken, aber hier, am Rand des Dorfs, da gibt es natürlich keins, und so geht sie zurück, geht langsam, und merkt nicht, dass sie mitten auf der Straße geht, kaum befahren, und dann hupt es kurz vor ihr, und ein Auto hat halten müssen, silbermetallic, durch die Windschutzscheibe zieht ein junger Mann die Augenbrauen hoch, er hebt die Hände vom Lenkrad und macht eine Was-soll-das-denn-Geste, Lynn tritt zur Seite, der Wagen fährt vorbei, Lynn schaut hinterher, er hält beim Haus von Silvia Maurer, der Mann steigt aus, überquert mit schnellen Schritten die Straße, stößt das Gartentürchen zurück, und mehr kann Lynn nicht sehen, aber plötzlich denkt sie, vielleicht ist alles ganz anders, als ich glaube, vielleicht ist Silvias Leben nicht so, wie ich es mir vorgestellt hab, vielleicht nimmt sie gerade jetzt an der Tür den Mann in den Arm und zerrt ihn in die Wohnung und sperrt den Hund in die Speisekammer und freut sich auf ein Wochenende ohne Ehering. Lynn geht weiter, Richtung Zentrum. Am Bahnhof steigt sie in den Bus, der noch einige Minuten reglos dasteht, ehe er losfährt.

12
    F ünfter Samstag. »Ciao«, sagt Lynn.
    Chiara nimmt das Geld vom Schränkchen, geht noch mal zurück zu Lynn und gibt ihr einen Kuss auf die Stirn.
    »Wissen deine Eltern davon?«, fragt Lynn.
    »Wovon?«
    »Was du tust?«
    »Nein.«
    »Hast du Kontakt zu ihnen?«
    »Geht so.«
    »Wohnen sie hier in der Stadt?«
    »Drei Stunden weg.«
    »Besuchst du sie oft?«
    »Zweimal im Jahr.«
    »Und sie dich?«
    »Nie.«
    »Wie heißen Sie?«
    »Clemens und Greta.«
    »Und mit Nachnamen?«
    »Bartholdy.«
    Chiara hat keine Sekunde gezögert.
    »Hast du Geschwister?«, fragt Lynn.
    »Nein. Und du?«
    »Nein.«
    Schweigen, kurz nur.
    »Ist Chiara dein richtiger Name?«
    »Ja.«
    »Weißt du schon, wann du Schluss machen wirst?«
    Chiara zuckt mit den Schultern.
    »Machst du Escort-Service?«, fragt Lynn.
    »Warum fragst du?«
    Lynn atmet laut. Jetzt wäre der Augenblick, die Frage zu stellen. Noch ein allerletztes Mal weicht sie aus.
    »Siehst du das Schränkchen?«, fragt Lynn.
    »Was?«
    »Da vorn, das kleine Schränkchen?«
    »Wieso?«
    »Hast du dich nie gefragt, weshalb es überhaupt stehen kann, es hat nur zwei Beine.«
    »Es hat vier.«
    »Kannst du die sehen? Alle vier?«
    »Nein. Nur die vorderen zwei.«
    »Woher weißt du dann, dass es vier Beine hat, wenn du nur zwei sehen kannst?«
    »Willst du mich verarschen?«
    Lynn ist weit davon entfernt.
    Sie spricht jetzt ihren Monolog über die Dinge. Lynn ist ganz bei sich, während sie spricht. Die Dinge, sagt sie, haben ihren eigenen Charakter. Immer ist uns die Hälfte verborgen. Die Flasche Sprudel, der Bleistift, die Lampe, alles sehen wir nur halb, nur von vorn, von schräg vorn, von oben, aber nie komplett, nie ganz. Die wahren, die vollkommenen Dinge liegen immer im Dunkeln. Wir sind begrenzte Wesen. Wenn ich die Flasche greife, um aus ihr zu trinken, woher weiß ich, dass sie eine Rückseite hat? Ich stelle mir die Rückseite nur vor. Ich bilde sie mir ein. Ich gehe einfach davon aus, dass es sie gibt. Ich tue so, als ob ich es sicher wüsste. Nicht mehr und nicht weniger.
    »Erfahrung«, sagt Chiara.
    »Was?«
    »Alles eine Sache der Erfahrung.«
    Am Sonntag putzt Lynn vormittags die Saunabänke, am Montag sagt ihr Heinz, dass er sie nicht mehr treffen kann, eine Neue, sagt er, die Zeiten ändern sich, am Dienstag dann nur ein Butterbrot, das auf den Boden nebens Bett fällt, der Gast hebt es auf, ein Gurkenscheibchen bleibt auf dem grünen Teppich liegen, nach einer Weile greift Lynn danach und schiebt es zwischen die Zähne, am Mittwoch fixiert Lynn so lange ihre Fußspitzen, bis die Augen tränen, am Donnerstag sagt die Mutter, sie habe vor, sich eine Katze zu kaufen, Lynn legt auf, einfach so, am Freitag sagt sie dem Therapeuten, dass sie sich wohlfühle wie lange nicht mehr, in der Hoffnung, Schlick würde sagen, dann können wir die Therapie beenden, aber er tut es nicht, am Samstag liegt sie in Chiaras Armen, die Augen geschlossen, es ist vorbei, Lynn fühlt, wie der Entschluss, sie zu fragen, endlich in ihr zuschnappt.
    »Schmeck ich gut?«, fragt Lynn.
    »Nach Seife.«
    »Ich wasch mich immer
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