Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Zimmermaedchen

Das Zimmermaedchen

Titel: Das Zimmermaedchen
Autoren: Markus Orths
Vom Netzwerk:
bricht herein, legt sich gelb auf die Felder, dann die Schnellstraße, die Lynn kennt, die sie schon mal gefahren ist, mit dem Taxi, warum erst jetzt, denkt Lynn, warum so lange gewartet, warum nicht damals schon, am nächsten Tag, am freien Tag: Silvia, ich muss dir die Wahrheit sagen. Lynn lässt sich tief in den Ort hineinfahren. Sie steigt am Bahnhof aus, isst eine Kleinigkeit in einem Cafe in der Schneeweihergasse. Dann erst macht sie sich auf den Weg. Es ist vier Uhr. Lynn nähert sich zielstrebig dem Haus der Familie Maurer, Ludwig und Silvia Maurer, sie zögert nur kurz, ehe sie die Klinke des Gartentürchens drückt und den Kiesweg entlanggeht, um endlich zu tun, was sie sich vorgenommen hat. Sie weiß nicht, ob Silvia da ist. Vielleicht wird Ludwig öffnen?
    Lynn klingelt. Hundegebell als Antwort. Dann Rufe, Gebell verstummt. Tür geht auf. Silvia sieht ein wenig anders aus als auf dem Bild, die Haare sind rot gefärbt, Sommersprossen, sie trägt Flip-Flops, weite Hose, Anfang vierzig vielleicht, schlank, sportlich, Silvia lächelt, ist nicht unfreundlich, hätte, wenn der Hund nicht zerrte, vielleicht sogar eine einladende Bewegung gemacht, hinein ins Haus, aber vielleicht täusch ich mich, denkt Lynn, wer lädt schon eine Fremde von der Straße ein?
    »Kann ich Ihnen helfen?«, fragt Silvia.
    Der Hund will hochspringen, Silvia hält ihn am Halsband fest.
    Lynn sagt: »Entschuldigung. Ich suche die Schneeweihergasse.«
    »Da sind Sie falsch, warten Sie, ich zeig’s Ihnen.«
    Silvia tritt mit dem Hund aus dem Haus, führt Lynn den Gartenweg entlang, Rhododendron, zeigt mit der Hand über den Zaun und weist die Richtung, erklärt den Weg, der Hund springt über den Rasen, beschnüffelt seine eigenen Markierungen, Lynn überlegt, wie sie den Mut aufbringt für die entscheidenden Worte, die ein ganzes zurechtgelegtes Leben einfach so zerreißen würden. Ich brauch Zeit, denkt Lynn, ich brauch Zeit.
    »Hören Sie«, sagt sie.
    »Ja?«
    »Ich, es ist mir unangenehm, aber, ob ich vielleicht kurz Ihre Toilette benutzen dürfte, ich bin …«
    »Klar«, sagt Silvia. »Kommen Sie.« Und beide gehen ins Haus, der Hund hinterher.
    Im Gästebad tigert Lynn auf und ab, reibt sich die Hände, greift rasch zum Handtuch, bohrt den Zeigefinger hinein, befeuchtet die Stelle mit lauwarmem Wasser und nimmt sich die Ecken vor, die schwierigen Stellen, und während sie putzt, ohne jedes Putzmittel, wird sie ruhiger und geht in ihrem Kopf die Möglichkeiten durch, die hinter der Tür auf sie warten, wenn sie tut, weswegen sie hier ist. Silvia, denkt Lynn, sie wird mir nicht glauben, wird mich höflich, aber bestimmt zur Tür weisen, nein, sie wird mir nicht glauben, wie auch, wie soll sie einem Menschen glauben, der behauptet, sich unters Bett von Fremden zu legen, nein, sie wird mir erst glauben, wenn sie es selber hört, wenn sie selber unterm Bett liegt, Zimmer 304, und dort, Silvia, unterm Bett, da ist es hart und dadurch behaglich, dort, unterm Bett, da ist es eng und dadurch weit, dort, unterm Bett, da siehst du Dinge, die du nie gesehen hast, dort, unterm Bett, da öffnet sich die Kehrseite der Welt, und bevor ich unterm Bett lag, dachte ich immer, dass Männer und Frauen sich küssen, wenn sie morgens aufwachen, aber jetzt weiß ich, dass einer zum anderen sagt: Putz dir die Zähne, du hast Mundgeruch.
    Lynn hört ein Klopfen, hart, laut.
    Silvias Ruf: »Alles in Ordnung?«
    Lynn drückt die Spülung, hängt das Handtuch zurück, öffnet die Tür, tritt in den Flur, dort steht Silvia.
    »Sie waren ewig da drinnen«, sagt sie.
    »Tut mir leid«, sagt Lynn.
    »Ich erwarte Besuch.«
    »Bin schon weg.«
    In Filmen würde jetzt endlich der Hund an Lynn hochspringen, und Lynn fiele rücklings zu Boden, Silvia würde erschrocken und kleinlaut an ihr rumfummeln, besorgt nachfragen, sie nicht gehen lassen, zur Couch führen, Kaffee kochen, sie verarzten, den Hund einsperren, und die beiden Frauen kämen sich näher, würden den Nachmittag verbringen, gemeinsam, sich austauschen über ihr Leben, würden sich weiter treffen, vielleicht mittwochs, erster Mittwoch, zweiter Mittwoch, dritter Mittwoch, so lange, bis der Mittwoch kein freier Tag mehr wäre, sondern gefüllt mit Silvias Vertrauen, und erst dann, irgendwann, würde Lynn sagen, was sie schon von Anfang an sagen wollte, erst dann wäre auch Silvia bereit, sich unters Bett zu legen, Zimmer 304, aber jetzt, hier, in der Wirklichkeit des Maurer-Hauses, da springt kein Hund, da
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher