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Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert

Titel: Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert
Autoren: Kai Meyer
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alles werde gut, ganz siche r s ogar; er werde sie mit seinem Leben schützen, wenn es sein müsse, und das meinte er ernst. Atemlos rannte er aus dem Stall und schaute sich um.
    Die losen Dunstfetzen, die sich überall vom Rand der Insel lösten, verdeckten die Sicht auf die Wolkengipfel. Standen die Aetherpumpen noch? Ebenso gut hätte er fragen können, ob der Himmel noch an Ort und Stelle hing. Die Aetherpumpen waren unfehlbar, man zweifelte nicht an ihnen. Aber ihm kamen die sorgenvollen Mienen der Ratsmitglieder in den Sinn. Hatten sie geahnt, dass es Schwierigkeiten geben würde? Ganz sicher sogar.
    Niccolos Blick huschte ins Tal, über Wolkenwehen hinweg, die Teile der Siedlung verdeckten. Zwischen seinem Haus und der kleinen Ortschaft lag auf halber Strecke der Hof des alten Emilio. Kurz dahinter erhob sich auf einem weißen Hügel eine Windmühle. Zwar wurde dort auch Korn gemahlen, doch diente das Gebäude vor allem als Ort der Versammlung. Einmal am Tag rief ein Priester zur Predigt und verkündete das baldige Kommen des Zeitwindes, der sie alle in eine bessere Zukunft wehen würde. Es gab sieben solcher Windmühlen auf der Wolkeninsel, und Niccolo hielt sich von allen fern.
    Der Boden wurde erneut erschüttert, viel heftiger diesmal. Niccolo fuhr herum in Richtung Stall. Falls das Dach einstürzte, würden die Balken die Schweine und Kühe schwer verletzen, vielleicht sogar töten. Aber ihm blieb keine Zeit, sie alle ins Freie zu treiben, denn im selben Augenblick neigte sich die Insel in Niccolos Richtung und warf ihn von den Füßen. Die Balken der Gebäude knirschten erbärmlich, aber sein Vater hatte solide gebaut; Haus und Stallungen hielten den Belastungen stand.
    In der Ferne ertönte ein grässliches Bersten. Wieder wirbelte Niccolos Blick herum. Das Flügelkreuz der Windmühle löste sich aus seiner Verankerung, riss die halbe Wand des Turmes ein und hüpfte hochkant wie ein Spielzeug über die Wolkenh ü gel, auf und nieder, vorbei an Emilios Hof – und genau auf Niccolo zu. Über tausend Meter mochten noch zwischen ihm und dem heranpolternden Flügelkreuz liegen. Der Anblick war so bizarr, dass er sich für einen Moment nicht davon abwenden konnte, einfach nur hinstarrte wie ein Vogel, der einem Jäger in die Augen blickt, ohne zu ahnen, dass ein tödlicher Pfeil auf ihn gerichtet ist.
    Falls das gewaltige Flügelkreuz mit dem Haus kollidierte, würde von beidem nur ein Haufen Holztrümmer übrig bleiben. Welch böse Ironie, schoss es Niccolo durch den Kopf, dass es ausgerechnet die Windmühlenflügel sein sollten, die den Hof zerstörten. Die Zeitwindpriester trugen Mitschuld daran, dass Cesare Spini und sein Sohn die Gemeinschaft hatten verlassen müssen; auf ihr Geheiß hin hatte der Herzog den Ausschluss der beiden verhängt.
    Die vier Windmühlenflügel drehten sich schneller als beim heftigsten Sturm, schlingerten und sprangen, neigten sich aber niemals weit genug, um auf die Seite zu fallen. Ihre Umrisse verschwammen in der Bewegung zu einem wirbelnden Rad, doppelt so hoch wie das Hofdach. Ihre Enden huschten wie Beine eines Riesentiers über die Wolkenoberfläche, fetzten weiße Flocken aus dem Untergrund, gruben eine Furche durch Wehen und Hügel. Die Insel lag noch immer schräg; der Rand, an dem sich Niccolos Haus erhob, bildete den tiefsten Punkt. Das Flügelkreuz musste zwangsläufig in diese Richtung rollen.
    Die Tiere im Stall wurden durch die Neigung des Untergrunds durcheinander geworfen. Niccolo hetzte ins Haus, zog den alten Langbogen seines Vaters aus einer Ecke und stürmte wieder ins Freie, hinauf auf einen Hügel, nicht weit vom Hof entfernt. Die Waffe zu spannen war nicht einfach, die Pfeile im Köcher waren beinahe doppelt so dick wie Niccolos Zeigefinger. Trotzdem gelang es ihm, die knirschende Bogensehne bis ans Ohr zu ziehen.
    Er wartete, bis das Flügelkreuz über die nächste Erhebung rotierte, dann ließ er los. Der Pfeil fauchte mit ungeheurer Wucht davon, geradewegs auf das flirrende Rad zu – und wurde von dem Wirbel verschluckt, als hätte Niccolo ins Leere gezielt.
    Schon lag ein zweiter Pfeil an seiner Sehne. Gleich darauf ein dritter und vierter. Pfeil um Pfeil feuerte er auf das Flügelkreuz ab, jeder mit genug Kraft, um einen Ochsenleib zu durchschl a gen und auf der anderen Seite weiterzufliegen. Sein Vater war stolz auf diesen Bogen gewesen, ein Erbstück aus alter Zeit, als die Ahnen der Spinis am Boden gelebt hatten. Er hatte ihn gepflegt wie eine
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