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Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert

Titel: Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert
Autoren: Kai Meyer
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Jahreszeit.
    Nugua öffnete die Augen – und kniff sie hastig wieder zu, als Sonnenlicht in ihre Pupillen stach. Weil sie sich ein Leben lang in der Nähe der Drachen aufgehalten hatte, hatte sie die Sonne nur selten zu sehen bekommen. Regenwolken folgten ihnen auf ihren Wanderungen durch die Weiten Chinas, keine schweren dunklen Ballen, sondern faserige Nieselschwaden, hinter denen die Sonne milchig schien, kaum heller als der Mond.
    An diesem Morgen aber brannten ihre Strahlen nadelspitz und unbarmherzig aus einem beängstigend klaren Himmelsblau.
    Nugua richtete sich auf und blickte vorsichtig zu Boden. Nur langsam gewöhnte sie sich an das schmerzhaft grelle Licht. Sie hatte zwischen den Wurzeln eines gewaltigen Baumes geschl a fen, eingehüllt in eine Decke aus abgestoßener Drachenhaut. Die feine Feuchtigkeit, die der Regen sonst auf Felsen und Pflanzen hinterließ, war getrocknet. Das Laub der Wälder schimmerte stumpf. Es war nicht das Einzige, das an Glanz verloren hatte.
    Nirgends war ein Drache zu sehen.
    » Yaozi? «, rief sie krächzend. Angst überkam sie.
    Keine Antwort.
    Der Bergwald lag dicht und verlassen da, ein Gewirr aus verschachtelten Felsen, dunkelgrün bemoost, beschattet von Pinien, Buchen und Birken.
    Nugua kletterte zwischen den Wurzeln hervor. Einen Drachen kann man nicht übersehen, selbst wenn ihn Felsen und Bäume verdecken. Die Glut seiner Schuppen strahlt dahinter empor, spiegelt sich auf der Unterseit e v on Blättern, sogar unter den Wolken, wenn einer der großen Drachenkönige vorüberzieht.
    Aber Nugua sah hinter Dickicht und Gestein nichts als Düste r nis. Allein das Sonnenlicht trieb funkelnde Bahnen durchs Blätterdach, schuf helle Pfützen im Unterholz. Wind pfiff von den Gipfeln herab und schüttelte die Baumkronen, bis sie miteinander flüsterten, in ihrer raschelnden, gespenstischen Sprache.
    Sie fand ein paar abgeworfene Schuppen wie an jedem Mo r gen. Entdeckte vereinzelte Haare aus Drachenmähnen, rot und golden und türkis. Folgte vergeblich den Spuren fünfkralliger Riesenklauen. Betastete schneckenhausförmige Kuhlen im Erdreich, wo zusammengerollte Drachenleiber geschlafen hatten. Und bekam Panik, als sie spürte, dass bereits alle Wärme aus dem Boden entwichen war.
    Die Drachen waren fort. Hatten sich über Nacht in Luft aufg e löst, ohne Nugua in ihre Pläne einzuweihen.
    Aber was, wenn es gar keine Pläne gegeben hatte? War es denkbar, war es möglich, dass die Drachen gegen ihren eigenen Willen verschwunden waren?
    Nein, nicht Yaozi, der Drachenkönig des Südens. Und nicht sein ganzer Clan, mehrere Dutzend der größten und gefährlich s ten Geschöpfe, die das Reich der Mitte je mit ihrem Dasein gesegnet hatten. Drachen waren heilig und unantastbar. Wer oder was wäre wahnsinnig genug, es mit einem von ihnen aufzunehmen? Und erst recht mit so vielen?
    Leiber wie Festungen, Zähne wie messerscharfe Türme. Und Augen wie aus purem Gold, unendlich weise – und bedrohlich.
    Nugua inspizierte die Umgebung durch Tränenschleier. Ni r gends gab es Kampfspuren. Nicht einmal Schneisen im Unterholz. Drachen werden viele tausend Jahre alt und haben alle Zeit der Welt. Sie kennen keine Eile und schlängeln sich trotz ihrer Größe geschickt zwischen Bäumen hindurch.
    Nichts deutete auf einen raschen Aufbruch hin. Keine abg e knickten Stämme, kaum niedergewalztes Dickicht. Die üblichen Spuren eines Drachenlagers, sicher. Aber keine Verwüstung, keine Anzeichen von Hast.
    Nugua stieg in eine Kuhle im Boden, in der Yaozi während der vergangenen Nächte geschlafen hatte. Die Erde war ausgekühlt. Die Spuren seiner Schuppenränder waren deutlich zu sehen, ebenso die meterlangen Furchen, die seine Krallen im Schlaf ins Gestein geschnitten hatten. Seit Nugua zu alt war, um wie ein Kind in der Mitte von Yaozis aufgerolltem Schlangenleib zu schlafen, plagten düstere Träume den Schlummer des Drache n königs. Besser, man kam ihm nicht zu nahe, wenn er schlafend die Klauen ins Erdreich schlug.
    Sie ging in die Hocke und betastete eine Schneise im Waldb o den, als wäre dort etwas von seiner Anwesenheit zurückge blieben, eine Nachricht vielleicht. Eine Erklärung, ganz gleich wie flüchtig. Sie wollte wütend auf ihn sein, dafür, dass er sie nach all den Jahren ohne ein Wort zurückgelassen hatte. Zorn wäre gut, dachte sie. Besser jedenfalls als diese entsetzl i che Sorge, die in ihrem Inneren wühlte.
    Sie wartete, bis ihre letzten Tränen getrocknet waren. Dann
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