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Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert

Titel: Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert
Autoren: Kai Meyer
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presste sie die Lippen aufeinander und sah trotzig zum Himmel hinauf, starrte stur in die Sonne, als wollt e s ie das Gestirn dort oben zwingen, den Blick von ihr abzuwenden.
    Sie fürchtete sich vor der Welt da draußen. Aber sie hatte sich auch vor der Sonne gefürchtet, und jetzt hatte sie diese Angst besiegt. Sie würde auch mit allem anderen fertig werden.
    Sie dachte an Yaozi und an seine goldenen Augen. An seine dröhnende und doch so sanfte Stimme. An die Freundschaft der übrigen Drachen und ihre Geduld mit einem Menschenmädchen, das sie zu einem der ihren gemacht hatten.
    Nugua suchte sich einen festen Stock; mit einer Steinklinge schnitt sie ihr schwarzes Haar, bis es kurz und struppig war; sie schnürte ihre Decke aus Drachenhaut zu einem Bündel und befestigte es auf ihren Schultern.
    Dann kletterte sie auf einen Felsen und hielt Ausschau nach Regenwolken.
     
    DIE HOHEN LüFTE
     
    N iccolo stand am äußeren Rand einer Wolke und blickte hinab in die Tiefe. Der Erdboden lag zweitausend Meter unter ihm. Deutlich zeichneten sich die Schatten der Wolkeninsel ab, legten sich wie Tintenflecken über Wälder und Berge und die glitzer n den Fäden der Flüsse.
    Während er in den Abgrund schaute, fragte er sich zum ta u sendsten Mal, wie es wohl war, dort unten zu leben, auf festem Boden, auf Stein und Sand und Erde. Am Strand entlangzula u fen und auf Booten das Wasser zu befahren. Das musste ein aufregendes Leben sein, frei und ungezwungen. Gehen zu können, wohin man wollte. Kein Dasein zu führen wie in einem Gefängnis, so wie das seine hier oben auf den Wolken.
    Das Volk der Hohen Lüfte bewohnte diese Wolkeninsel seit vielen Generationen. Vor über zweihundertfünfzig Jahren waren die Aetherpumpen zum ersten Mal in Gang gesetzt worden und verliehen den Wolken seither Festigkeit. Vom Boden aus sah niemand, dass Menschen hier oben lebten.
    Niccolo tastete mit der Stiefelspitze einen weiteren Schritt nach vorn. Es war nicht leicht zu erkennen, wo die feste Wo l kenmasse endete und die durchlässigen Dunstfetzen begannen, die sich immer wieder an den Rändern ansetzten. Die Insel wurde steuerlos vom Wind über di e W elt geweht und sammelte dabei unfreiwillig allerlei Wolkentreibgut ein, von dünnen Fasern bis hin zu gewaltigen Ballen, die sich verkeilten und manchmal tagelang haften blieben. Äußerlich unterschieden sie sich nicht von der festen Masse, auf der das Volk der Hohen Lüfte seine Häuser und Höfe errichtet hatte. Doch wer nicht Acht gab, der konnte sich leicht über die unsichtbare Grenze zwischen stabilem Untergrund und nachgiebigem Dunst verirren. Immer wieder kam es zu tödlichen Unfällen, und Niccolo fragte sich, was wohl die Menschen am Boden dachten, wenn – ganz buchstäblich – aus heiterem Himmel ein Körper in ihre Mitte stürzte.
    Sie werden es ihren Göttern in die Schuhe schieben, dachte er und erinnerte sich an die Lektionen seines Vaters. Sie glauben, dass es hier oben im Himmel allmächtige Wesen gibt, die ihr Schicksal bestimmen.
    Dabei gibt es nur uns. Und den Aether.
    Die Menschen der Hohen Lüfte hatte den Glauben an einen Gott längst aufgegeben. Nach ihrem Aufbruch vom Boden, vor einem Vierteljahrtausend, hatten sie die engen Ketten ihrer alten Religion zurückgelassen – und sich bereitwillig von einer neuen in Fesseln legen lassen. Aber was, wenn der allmächtige Zeitwind, zu dem die Priester in ihren Windmühlen beteten, niemals wehen würde?
    Rufen wir den Zeitwind herbei!, wiederholten sie wieder und wieder in ihren Predigten, und das Volk der Hohen Lüfte verneigte sich und murmelte ergeben: Der Zeitwind komme t . N iccolo machte einen weiteren Schritt zum Rand hin. Als ihm bewusst wurde, wie nah er sich am Abgrund befand, sprang er hastig zurück. Der heilige Zeitwind moch te niemals kommen, aber eine gewöhnliche Windbö konnte ihn jederzeit erfassen und mit sich reißen.
    So wie seinen Vater. Cesare Spini war dem Sog der Tiefe erlegen. Niccolo hatte aus der Ferne mitansehen müssen, wie sein Vater von einem Windstoß von der Wolke gehoben wurde. Cesare hatte den Verlauf der festen Kante in- und auswendig gekannt, besser als irgendeiner sonst auf dieser Seite der Wolkeninsel, doch nicht einmal das hatte ihn vor dem Absturz bewahrt.
    Die Grübelei darüber tat weh, und Niccolo versuchte, an etwas anderes zu denken. Aber alles hier erinnerte ihn an seinen Vater. Ihr Haus, zweihundert Meter wolkeneinwärts, war wie ein Schrein, in dem all das Wissen Cesares auf
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