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Das wilde Leben

Das wilde Leben

Titel: Das wilde Leben
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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und keiner wußte, was sie mit dem Kiosk gewollt hätten. Die Freunde standen kurz vor dem Schulabschluß, waren unverbesserliche Romantiker und Loser, bekamen keinen Alkohol verkauft, und den Frauen gefielen sie nicht. Den Männern im Prinzip auch nicht. Sie gefielen niemandem. Und da stießen sie eines Tages in ihrem Stadtteil, einem Vorort von Charkiw, auf einen betrunkenen Handelsreisenden, der friedlich vor einem Spielsalon auf einer Bank schlief. Sofort beschlossen die Freunde, ihn auszunehmen, zum Beispiel das Handy zu klauen. Wie sich herausstellte, hatte der Handelsreisende drei davon, also nahmen sie auch alle drei. Morgens begannen die Telefone dann zu klingeln. Die Freunde wußten nicht, was tun, gingen auf den Markt für technische Geräte und vertickten die ersten zwei fast für umsonst, das dritte aber behielten sie erst einmal. Bodja kriegte Panik, schrie, daß sie sicher schon gesucht würden, und schlug vor, sich zu verpissen, vielleicht auf die Krim, ans Meer. Das Geld, das sie für die Handys bekommen hatten, reichte für zwei Fahrkarten dritter Klasse, und noch am selben Abend verließen sie die Stadt ins dunkle, süße Unbekannte. Nachts träumten sie von Kriegsschiffen. Für Bettzeug reichte das Geld nicht.
    In Alupka angekommen, stiegen sie aus dem Bus und besichtigten die Stadt. Lange fotografierten sie sich am vergoldeten Lenindenkmal, den Vjetal wegen der weiten Hosen zuerst nicht erkannte, lange redete er auf Bodja ein versuchte und ihn davon zu überzeugen, daß es sich um irgendeinen lokalen Typen handeln mußte. Sie kauften Chips. Damit war ihr Geld endgültig weg. Die Kumpel gingen ans Meer, setzten sich auf die Kiesel, betrachteten die leintuchweißen Himmel und hörten Melodien aus dem Mobiltelefon. Es war März, und das Leben schien ihnen unendlich und süß wie Karamelbonbons für umsonst. Man konnte zum Beispiel als Matrose auf einem der Frachtschiffe anheuern, unter irgendeiner exotischen Flagge irgendeiner nicht anerkannten afrikanischen Republik fahren und einen echten Seemannspaß besitzen, der die geheimsten und süßesten Tore öffnete, konnte schwarze heiße Häfen anlaufen, Alkohol saufen und mit fröhlichen, unkomplizierten Chinesinnen schlafen, im Magen Schmuggelware transportieren und mit gestohlener Kleidung handeln, falsche Goldkettchen tragen und die verruchtesten und schlimmsten Typen der Stadt kennenlernen, wenn es solche gab. Man konnte in den tränensalzigen Wassern des Roten Meeres herumschippern, die äthiopische Küste entlang, und sich nur von Fisch und Hasch ernähren, von Stadt zu Stadt reisen, sich im lärmenden Hafenpublikum verlieren, mit Bootsmännern und Schiffsärzten trinken, mit Mördern und Perversen singen, Haie, Drachen und hinterhältige Raubkraken jagen. Man konnte sich die besten und schmackhaftesten Stücke des Lebens aussuchen, alles neu beginnen und völlig unabhängig sein, blind durch die Fata Morganas über dem Meer stoßen, die Wellen durchpflügen, Durst und Hun
ger ertragen, im Eis festfrieren und auf einer langsamen, brennend heißen Flamme braten, um schließlich am Bestimmungsort anzukommen, wo Ruhm, Ehre und süße, wahnsinnige Liebe warten. Hauptsache, sich jetzt nicht an den Chips verschlucken.
    Gegen Abend kehrten die Freunde ans Lenindenkmal zurück, um das letzte Handy zu verkaufen. Ein schwarzhäutiger Jugendlicher sprach sie an, ein paar Jahre älter als sie, der am Denkmal mit seinem Boxer Gassi ging und Gabriel hieß, Geld habe er nicht, sagte er, aber ein Zimmer, in dem gerade niemand wohne und das er deshalb für ein paar Tage vermieten könne. Im Tausch gegen das Telefon, versteht sich. Die Freunde schwankten einen Moment, aber nur einen Moment. Im Zimmer gab es an Möbeln nur ein Bett, sie warfen sich hinein, ohne ihre Kleider auszuziehen, und schliefen sorglos fast bis zum Mittag.
    Am nächsten Tag fand Bodja unter dem Bett ein altes Schachspiel. Mit dem Schachspiel in der Hand gingen sie ins Sanatorium des Verteidigungsministeriums, trafen dort auf den Bänken ein paar abgehalfterte Oberste und schlugen ihnen ein Spiel vor. Sie gewannen zwanzig Dollar und eine Schachtel Zigaretten und zogen los, Chips kaufen. Im Geschäft näherten sie sich einer eindrucksvollen Dame in Schwarz, die am Regal stand und die Madeira-Flaschen betrachtete, und baten sie, Bier für sie zu kaufen, die Dame musterte die beiden eingehend von Kopf bis Fuß und lud sie dann zu sich ein. Sie wohnte auch im Sanatorium des
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