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Das wilde Leben

Das wilde Leben

Titel: Das wilde Leben
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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ihre endlosen Gespräche über das Wetter und die Gesundheit, vielmehr – über den beklagenswerten Zustand des einen wie des anderen. In der Stadt unterbrachen die Arbeiter in den Lagerhallen und auf den Baustellen ebenfalls die Arbeit, holten ihren ganzen Alkohol hervor, ihre ganze Marschverpflegung, breiteten alles auf hölzernen Bänken aus, präsentierten der Sonne ihre tätowierten Schultern und erzählten die alten Geschichten von Geschäften, Frauen und verbrecherischen Machenschaften, anders gesagt: Geschichten aus ihrem eigenen Leben. Um die Weinkioske sammelte sich das Stammpublikum, besetzte die besten Plätze an den Tischen und beobachtete, wie die frische Sonne langsam nach Westen driftete. Alles sollte wohlüberlegt und konsequent vonstatten gehen – vor allem der Konsum alkoholischer Getränke.
    Gegen Abend füllten sich die Bars mit Jugendlichen, die auf Mopeds und in alten sowjetischen Autos angefahren
kamen, Wein tranken und Musik aus der Musikbox hörten, nach sechs stürmten die Bauarbeiter die Bars, die Säufer kamen angekrochen, wenigstens diejenigen, die noch kriechen konnten, auch Oberste im Ruhestand aus den Sanatorien schauten vorbei, einsame Mädchen und verlassene Hausfrauen, bedudelte Zigeunerweiber und betrogene Studentinnen, draußen dämmerte es, und in den Bars zündete man die ersten goldenen, vom Zigarettenrauch gedämpften Lichter an. Ein Laden nach dem anderen schloß, aber Alkohol und Brot waren noch bis in die Nacht zu haben, die Sonne erleuchtete die Wasseroberfläche, in den Fenstern der Mansarden und Gästezimmer flammte roter Widerschein, die Schatten verdichteten sich zu Tinte, und Lenin, der in seinem dandyhaften goldenen Jackett und den Hosen im Stil der späten fünfziger Jahre einem Beatnik glich, das Lenindenkmal also versank im Schatten, dort versammelten sich die Schüler und hörten mit ihren Mobiltelefonen Musik. Nach zehn Uhr abends erklangen in den engen Sträßchen im Zentrum die fröhlich betrunkenen Rufe und nervösen Seufzer derer auf dem Nachhauseweg, die nicht mehr in der Lage waren, die permanente Party fortzusetzen, den Tag der Ertrunkenen, sie kamen an die Ufer ihres Städtchens geschwommen, standen auf dem sandigen Meeresgrund und stampften mit ihren vom Wasser aufgequollenen Stiefeln den Takt zur Musik der Mobiltelefone. Gegen Mitternacht drehten alle auf, und die Atmosphäre war durchdrungen von Leidenschaft, Wein und Gefahr. In einer Bar begann eine Prügelei – Jugendliche waren wegen der Musikbox mit Moldawiern aneinandergeraten, man konnte sich lange nicht einigen, welche Musik gespielt werden sollte, obwohl die einen wie die anderen traurige Gefängnislieder
hören wollten, aber jeder hatte seine eigenen traurigen Gefängnislieblingslieder, und als einer, ohne an der Reihe zu sein, die Musikbox betätigte, begann die Prügelei. Die Moldawier waren älter, daher am Anfang im Vorteil, sie warfen die Ortsansässigen auf die Straße, schmissen sie aus der Bar, auf der Straße aber kamen den Jugendlichen ihre älteren Brüder zu Hilfe, Säufer, Arbeitslose und zufällige Passanten, Glasscherben glitzerten, das erste Schaufenster klirrte, die Jugendlichen zogen ihre Klappmesser, und das Fest erreichte seinen Höhepunkt. Die Nachtluft trocknete die Kehlen und ernüchterte die Köpfe, auf denen Weinflaschen zerschellten, die Moldawier zogen sich in Seitensträßchen zurück, evakuierten ihre Verwundeten und verloren sich in den Alleen der Parks. Die herbeigerufene Miliz zerstreute die Übrigen. Als sie alle vertrieben hatten, gingen die Milizionäre in die Bar, tranken alles, was die Moldawier übriggelassen hatten und hörten traurige Gefängnislieder. Ungestört.
    In der nächtlichen Stille zwitscherten Vögel, im Laternenlicht dunkelte verkrustetes Blut, unter dem Lenindenkmal saßen die Jugendlichen und wischten sich mit dem Ärmel die blutigen Nasenpopel ab. Säuberten ihre Messer, luden sich neue traurige Gefängnismelodien auf ihre Telefone und schauten in Richtung Meer – dorthin, wo gedämpfte Dunkelheit und Nebel waren, also nichts.
    2
    Zuerst hatten sie überlegt, einen Zigarettenkiosk auszurauben. Sie umkreisten ihn lange, beschnüffelten ihn. Aber einer von beiden, Bodja, hatte eine Tabakallergie, ihm wurde sofort schlecht, und sie ließen den Kiosk in Ruhe. Bodjas Kumpel, Vjetal, redete danach lange kein Wort mehr mit ihm, obwohl er sich im Grunde seines Herzens freute, daß es so ausgegangen war, schließlich rauchten sie beide nicht,
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