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Das wilde Leben

Das wilde Leben

Titel: Das wilde Leben
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Geschäfte, die trabten hinein und legten sich unter die Regale mit Dosenmais und goldenen Zwiebeln, dort lagen sie, atmeten warm und heizten mit ihrem Atem die feuchten Geschäfte. Die Verkäuferinnen zogen die Jalousien hoch, die Räume
wurden durch die ersten Sonnenstrahlen erhellt und füllten sich mit schrecklich fröhlicher Musik, wie sie normalerweise auf Kurzwelle läuft. Kurz darauf wurde frisches Brot und Milch geliefert, die Zulieferer wechselten ein paar fröhliche Worte, die Hunde drehten die Köpfe und schauten mißtrauisch die Männer an, die das noch warme Brot von der Straße hereintrugen. Danach betraten ältere Frauen die Geschäfte, kauften Brot und Konserven, schlüpften unbemerkt wieder hinaus auf die Straße und kehrten in ihre Wohnungen zurück. Der Nebel hob sich, und die Sonne erwärmte die Dächer. Die Hauswände und Blätter wilden Weins blähten sich naß wie frisch gewaschene Wäsche. Entlang des Ufers standen die halb leeren Sanatorien, Speisesäle, zogen sich leere Parks, Pionierlagerbaracken, totes Frühlingsterritorium, seit langem nicht renovierte Gebäude mit staatlichen Möbeln und schweren, fett und süß gestopften Kühlschränken, die nachts plötzlich schwer erzitterten und die Bewohner mit jenseitigen Geräuschen weckten. Zwischen den Bäumen endlose Zäune, Wachen an den Einfahrten, Efeu an Backsteinmauern, sonniger Staub auf toten Denkmälern, kaum mehr leserliche Inschriften, die sich aus den siebziger Jahren erhalten hatten – wie nächtliche Bahnhöfe leben Märzkurorte von der Erinnerung an bessere Zeiten, an eine lärmende Menge, im März ruft das alles leise Wehmut und leichte Abscheu hervor, mit Regen übergossene und von der Sonne getrocknete verlassene Städte, deren Bewohner abgereist sind und dabei unzählige persönliche Gegenstände zurückgelassen haben, auf die jetzt manchmal Wachleute und Einbrecher stoßen. Die meisten Fensterläden standen offen, und wer wollte, konnte die Möbel betrachten, die man in der ganzen Stadt zusammengesucht und
hierhergebracht hatte, Wandteppiche, alte Plattenspieler und Transistorradios, die Gegenstände waren meist zufällig und paßten nicht zu den ganzen Wandteppichen, weswegen die Zimmer an Abstellkammern erinnerten. Die meisten Zimmer waren nur im Sommer vermietet und standen den ganzen Winter über leer. Im Frühjahr machten die Besitzer dort sauber, lüfteten Kissen und Decken, vertrieben den toten Wintergeist, den Geist einer Wohnung, in der ein paar Monate lang niemand gewohnt hat, putzten den Boden, fanden Briefe, Telefonkarten und gebrauchte Kondome, Spuren fremder Leidenschaft und fremden Schmerzes sozusagen.
    Um zehn öffneten die Apotheken, vor denen sich schon die Säufer zusammengeschart hatten, furchtsam betraten sie die leeren hallenden Räume und schauten sich irgendwie erregt die grellen Postkarten, bunten Pillen, goldenen Tränke und Sirups, duftenden Pulver und teuren Cremes an, betrachteten voller Angst und Hochachtung das verchromte Stahl der medizinischen Apparaturen, steriles Gerät, mit dessen Hilfe man diejenigen zurück ins Leben holt, die sich eher unsicher darin halten, buchstabierten die Namen von chimärischen Mitteln gegen Unlust und Unsterblichkeit, blickten mit großen Augen auf Liebespülverchen, die aufs Zahnfleisch geschmiert werden, näherten sich vorsichtig den Regalen mit Spritzen und Skalpellen, schielten mißtrauisch auf Berge chinesischer Präservative, warfen neidische Blicke auf den ganzen bunten pharmazeutischen Überfluß, kauften aber meist nur zwei Flaschen Arzneispiritus und gingen an die frische Luft, wo sie diese ganze unglaubliche Pharmakologie erleichtert aus ihrer Brust herausatmeten.
    Vormittags schlenderten hier und da Bewohner der Sanatorien am Ufer entlang, verlorene und einsame Deserteure, jeden Tag kamen neue, geflohen vor dem ewigen Märzregen, der sich über die osteuropäischen Täler und zwischen den Flüssen liegenden Gebiete nördlich der Halbinsel Krim ergoß. Ein verschnupftes Publikum, zu zweit oder dritt irrten sie über Strände leer wie Stadien im Winter, beobachteten die Frachtschiffe, die in Richtung Sewastopol krochen, irrten über die Pfade im Park, setzten sich auf warme Steine, um Kriminalromane zu lesen, wobei ihre Sympathien überwiegend den Bösen galten.
    Mittags zerstreuten sie sich, kehrten in ihre ungeheizten Nester zurück, in Zimmer mit Fernsehern kalt wie tote Herzen, begaben sich in die Speisesäle, grüßten ihre Bekannten und begannen
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