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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
Autoren: Elizabeth Gilbert
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Henry wusste, dass die Jungen keine Ahnung hatten, was es bedeutete, sein Volk zu verlassen. Sie nannten sich Tibura und Gowah. Sie versuchten sich mit Henry anzufreunden, der ihnen vom Alter her am nächsten war, doch er ignorierte sie. Sie waren Sklaven, und sie waren dem Tode geweiht. Er wollte nicht mit Todgeweihten verkehren. Er sah, wie die neuseeländischen Knaben rohe Hunde aßen und sich vor Heimweh verzehrten. Er wusste, dass sie am Ende sterben würden.
    Er segelte weiter nach Tahiti, jenes grüne, buschige, duftende Land. Er sah, dass Kapitän Cook als Heimkehrer begrüßt wurde, als großer König und großer Freund. Schwärme von Indianern schwammen der Resolution entgegen und riefen Cooks Namen. Henry sah, wie Omai – der Eingeborene, der König George III. begegnet war – in seiner Heimat zunächst als Held empfangen und dann zunehmend als Außenseiter angefeindet wurde. Er erkannte, dass Omai kein Zuhause mehr hatte. Er sah, wie die Tahitianer zu englischen Hornpfeifen und Dudelsäcken tanzten, während sich Mr Nelson, Henrys biederer Botaniklehrer, eines Nachts betrank und mit nacktem Oberkörper zu den tahitianischen Trommeln tanzte. Henry tanzte nicht. Er sah, wie Kapitän Cook dem Schiffsbarbier befahl, er solle einem Eingeborenen, der zweimal Eisen aus der Schmiede der Resolution gestohlen hatte, beide Ohren bis zu den Schläfen abschneiden. Er sah, wie einer der tahitianischen Häuptlinge den Engländern eine Katze zu stehlen versuchte und dafür einen Peitschenhieb ins Gesicht erhielt.
    Er sah, wie Kapitän Cook über der Matavai-Bucht ein Feuerwerk abbrannte, um die Eingeborenen zu beeindrucken, doch es versetzte sie nur in Panik. In einer ruhigeren Nacht sah er eine Million Lichter am Himmel über Tahiti. Er trank aus Kokosnüssen. Er aß Hunde und Ratten. Er sah Steintempel, die mit Totenschädeln übersät waren. Auf tückischen Pfaden erklomm er Felsklippen, um neben Wasserfällen Farnproben für Mr Nelson zu sammeln, der selbst kein Kletterer war. Er sah, wie sich Kapitän Cook mühte, gegen die Zügellosigkeit unter den ihm anvertrauten Männern vorzugehen und für Ordnung und Disziplin zu sorgen. Alle Matrosen und Offiziere hatten sich in tahitianische Mädchen verliebt, und jeder dieser Frauen wurde nachgesagt, eine besondere, geheime Form des Liebesakts zu beherrschen. Die Männer wollten die Insel nicht mehr verlassen. Henry versagte sich die Frauen. Sie waren schön, ihre Brüste waren schön, ihr Haar war schön, ihr Duft außergewöhnlich, und sie bevölkerten seine Träume – doch die meisten von ihnen hatten bereits die Franzosenkrankheit. Er widerstand hundert betörenden Versuchungen. Er wurde deshalb verhöhnt. Er widerstand dennoch. Er hatte größere Pläne. Er konzentrierte sich auf die Botanik. Er sammelte Gardenien, Orchideen, Jasmin, Brotfrüchte.
    Sie segelten weiter. Auf den Freundschaftsinseln sah er einen Eingeborenen, dem auf Kapitän Cooks Befehl ein Arm abgehackt wurde, weil er auf der Resolution ein Beil gestohlen hatte. Auf denselben Inseln wurden er und Mr Nelson beim Botanisieren hinterrücks von Eingeborenen überfallen, die ihnen nicht nur sämtliche Kleider, sondern – ein sehr viel herberer Schlag – auch ihre Pflanzenproben und Notizbücher abnahmen. Nackt und sonnenverbrannt kehrten sie zitternd aufs Schiff zurück, doch Henry klagte immer noch nicht.
    Mit großer Sorgfalt beobachtete er die Gentlemen an Bord und taxierte ihre Verhaltensweisen. Er imitierte ihre Sprache. Er trainierte ihre Diktion. Er verbesserte seine Umgangsformen. Zufällig hörte er, wie ein Offizier zu einem anderen sagte: »Auch wenn die Aristokratie von jeher ein künstliches Konstrukt war, stellt sie doch immer noch das effizienteste Hemmnis gegen den Mob der Ungebildeten und Unreflektierten dar.« Er sah mehrmals, wie Offiziere einem beliebigen Eingeborenen, der adelig aussah oder zumindest der englischen Vorstellung von Adel entsprach, mit Ehrerbietung begegneten. Welche Insel sie auch betraten, die Offiziere griffen sich immer just den braunhäutigen Mann heraus, der eine feinere Kopfbedeckung trug als die anderen, prächtigere Tätowierungen, eine größere Lanze oder mehr Frauen hatte oder aber in einer Sänfte getragen wurde oder der – wenn keins dieser Insignien vorhanden war – einfach nur größer war als die anderen. Mit diesem Mann verhandelten sie, ihm überreichten sie Geschenke, und manchmal erklärten sie ihn zum »König«. Henry schloss daraus, dass
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