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Das weisse Horn

Das weisse Horn

Titel: Das weisse Horn
Autoren: Iwan Antonowitsch Jefremov
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einzuschlagen.
    An den Felsen gekrallt, betrachtete er besorgt den über
    ihm hängenden Vorsprung. In ihm keimte lähmende Ver-
    zweiflung. Und in diesem Augenblick schoß ihm ein
    Gedanke durch den Kopf:
    Was machte der legendäre Krieger vor 300 Jahren? Der ~
    Wind . . . Ja, der Krieger bestieg den Felsen auch an einem
    stürmischen Tag!
    Ussolzew trat jäh zur Seite, warf seinen Körper über den
    Vorsprung des Grates, krallte sich mit seinen Fingern in
    die glatte Wand und prallte zurück. Schmerzhaft, als woll-
    ten sie reißen, spannten sich seine Bauchmuskeln an, um
    den Fall aufzuhalten. Im selben Augenblick fühlte Ussol-
    zew einen Windstoß im Rücken, der hinter dem Grat
    hervorkam und ihn leicht stützte. Der von der tödlichen
    Gefahr gepackte Körper streckte sich durch die unerwartete
    Unterstützung und schmiegte sich an die Wand. Ussolzew
    stand auf dem schmalen Vorsprung. Hier, hinter dem Grat,
    wehte der Wind so stark, daß ihn sein weicher Druck
    hielt. Ussolzew konnte sich auf dem schmalen Sims fort-
    bewegen, obwohl dieser nach oben führte. Er stieg noch
    weitere fünfzig Meter hoch und wunderte sich, daß er
    immer noch nicht abgestürzt war. Der Wind tobte stärker
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    und drückte ihn gegen die Felsenbrust. Vorsichtig setzte
    er seine schmerzenden Füße voreinander und tastete sich
    den Steilhang hoch, während er die abbröckelnde lose
    Kruste zur Seite schob. Langsam, Schritt für Schritt, stieg
    er höher. Der Wind heulte und pfiff, das Geröll knirschte
    beim Herunterfallen, und Ussolzew erfaßte eine seltsame
    Fröhlichkeit. Er schwebte buchstäblich in die Höhe, ohne
    sich am Felsen stützen zu müssen. Und die Überzeugung,
    sein Ziel zu erreichen, gab ihm immer neue Kräfte. Schließ-
    lich stützte sich Ussolzew an der glatten, steilen Wand
    eines hohen Sockels. Auf diesem Sockel ragte noch immer
    in großer Höhe das scharfe Ende des Horns in die Wolken.
    Von hier aus konnte Ussolzew erkennen, daß die weiße
    Masse des Horns mit großen schwarzen Flecken durchsetzt
    war. Aber dieser Eindruck wurde durch die Freude darüber
    verdrängt, keinen der zwölf Haken verbraucht zu haben.
    Die Wand war in einer Höhe von etwa zehn Metern der-
    artig glatt und steil, daß ihm keine Kraft geholfen hätte,
    dieses Hindernis zu überwinden. Das erfahrene Auge des
    Geologen fand aber leicht die schwachen Stellen in dem
    Steinpanzer. Dort, wo verschiedene Schichten aufeinander
    stießen, bemerkte er feine Risse. Ussolzew schlug hier die
    Haken ein. Er hatte nur ganz dünne, leichte Haken mit-
    genommen. Wenn einer von ihnen abbrach, dann . . .
    Er stieg an den Haken empor und mußte auf die Südseite
    des steinernen Turmes hinüberklettern. Verschiedene Ge-
    steinsschichten, die aus dem Hang herausragten, bildeten
    kleine Vorsprünge und halfen ihm beim weiteren Aufstieg.
    Hier wurde der Wind, der bis jetzt ein treuer Verbündeter

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    gewesen war, zum gefährlichen Feind. Nur der Schutz des
    Felsens rettete Ussolzew vor dem Absturz.
    Einige Male hing er nur an den Händen, wenn unter ihm
    ein Vorsprung abbrach. Dann bedeckte sich sein Körper mit
    kaltem Schweiß, während seine Zehen krampfhaft nach
    einer Stütze suchten. Immer mehr todbringende Meter ließ
    er zurück. Endlich gelang es Ussolzew mit letzter ver-
    zweifelter Anstrengung, wobei er zweimal abrutschte und
    jedesmal vom Leben Abschied nahm, auf die Westseite zu
    klettern und - jetzt wieder vom Wind gestützt - sich am
    Rand eines kleinen Plateaus am Fuße des Horns festzu-
    krallen. Ohne an seinen Sieg zu denken, zog er sich fast
    bewußtlos mit den Händen hinauf und starrte auf das nach
    innen geneigte Plateau, das nicht größer war als ein Tisch.
    Lange lag er da, von den Stunden tödlichen Kampfes er-
    schöpft, und hörte nichts, als das eintönige Heulen des
    Windes, der sich an dem scharfen Horn stieß. Dann sah er
    einige dicht über den Gipfel fliegende Wolken. Ussolzew
    erhob sich auf die Knie und wandte sich dem rätselhaften
    weißen Gestein zu. Jetzt endlich lag es vor ihm und über-
    ragte ihn nur noch um wenige Meter. Man konnte es mit
    der Hand betasten und genügend Proben abschlagen.
    Mit einem Blick stellte er fest, daß das weiße Gestein ein
    durch hohe Temperaturen veränderter Granit voller Zinn-
    stein, Kassiterit genannt, war. In der reinen weißen Masse
    war verstreut silbriger Glimmer eingesprengt, schwarzen
    Spinnen ähnliche, fettglänzende Topase und das Hauptziel
    seines Unternehmens - große,
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