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Das Vorzelt zur Hölle: Wie ich die Familienurlaube meiner Kindheit überlebte

Das Vorzelt zur Hölle: Wie ich die Familienurlaube meiner Kindheit überlebte

Titel: Das Vorzelt zur Hölle: Wie ich die Familienurlaube meiner Kindheit überlebte
Autoren: Tommy Krappweis
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Kilometer gewesen. Nach einer weiteren Stunde Nachtfahrt waren wir vollkommen am Ende, und so bereiteten wir uns völlig erschöpft in einer Obstplantage unser übliches Schlaflager.
Immerhin hatten wir für den letzten Tag noch 280 Kilometer vor uns. Die mussten wir aber unbedingt schaffen, denn wir hatten beide am übernächsten Tag pünktlich in der Arbeit zu sein. Es wäre undenkbar gewesen, an diesem Tag nicht zu erscheinen.
Bereits im frühen Morgengrauen ging es weiter nach Bozen, dann über den Brenner nach Innsbruck. Nachdem wir noch ein paar Schillinge übrig hatten, kauften wir uns in Innsbruck zwei Leberkässemmeln. Ich kann mich heute deshalb noch so genau daran erinnern, weil wir so einen Hunger hatten und mir nie mehr in meinem Leben eine Leberkässemmel besser geschmeckt hat als diese. Auf unserem weiteren Weg mussten wir noch den Zirler Berg mit teilweise siebzehn Prozent Steigung überwinden, bevor es nach Mittenwald, über den Kesselberg und weiter Richtung Wolfratshausen ging.
Es war schon längst dunkel geworden, und wir waren beide wirklich völlig erschöpft, aber wir hatten keine Wahl. Dies war unser letzter Urlaubstag, und der Gedanke daran, was uns erwartete, wenn wir als Lehrlinge nicht pünktlich Schraubenschlüssel bei Fuß standen, ließ mich durchhalten.
Peter allerdings musste ich immer wieder gut zureden, nun bitte jetzt nicht noch auf den letzten Kilometern schlappzumachen. Doch dann passierte es: Kurz nach Großhesselohe, nur fünf Kilometer bevor er zu Hause gewesen wäre, stieg er von seinem Rad ab, legte sich auf die Bank in einem Straßenbahnhäuschen und meinte, es wäre ihm nun herzlich egal, ob er morgen in die Arbeit müsste oder nicht, er würde jetzt hier liegen bleiben und um alles in der Welt keinen Meter mehr weiterfahren.
Alles Betteln half nichts, er bewegte sich nicht von der Bank und erklärte mit matter Stimme, dass seine Füße heute kein Pedal mehr berühren würden. Erst als ich ihm versprochen hatte, dass ich ihn heimschieben würde, stieg er widerwillig auf sein Rad und ließ demonstrativ die Füße baumeln.
So schob ich meinen Freund Peter auf die letzten Kilometer mit den letzten Kraftreserven und dem Mut der Verzweiflung auf seinem Rad nach Hause.
Dann erst fuhr auch ich endlich heim. Es war zwischen zwei und drei Uhr nachts, als ich als Erstes in die Küche ging, um nach etwas Essbaren zu suchen. Dadurch wachte meine Mutter auf.
Als sie mich sah, begann sie sofort zu weinen: »Mein Gott, Bub, wie schaust denn du aus!« Ich muss wirklich schrecklich ausgesehen haben, denn bis auf die Zeit am Strand hatte ich kaum etwas gegessen und war von früh bis spät täglich Hunderte von Kilometern Rad gefahren. Wie betäubt fiel ich in mein Bett, ohne mich umzuziehen.
Als dann in der Früh um halb sieben mein Wecker läutete, konnte ich mich kaum bewegen. Während ich mir benommen und halb ohnmächtig mein Frühstück machte, kam meine Mutter verschlafen in die Küche geschlurft. Sie konnte überhaupt nicht nachvollziehen, warum ich nach so einer späten Heimkehr nun heute am Sonntag schon wieder so früh aufgestanden war. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich begriff, dass wir einen Tag zu früh nach Hause gekommen waren.

Am nächsten Tag ging ich frisch und ausgeruht in die Arbeit und war ganz froh, dass der Weg dorthin nur wenige Kilometer betrug. Aber eines war mir klar: Ich würde in Zukunft jede Gelegenheit nützen, um ans Meer zu fahren – für den Rest meines Lebens. Und wenn ich einmal Familie haben würde, dann würden wir uns einen Wohnwagen kaufen oder vielleicht einen Bus und einfach losfahren, genauso, wie ich das mit dem Peter gemacht hatte. Und genauso würden auch wir dann überall dort unser Lager aufschlagen, wo es uns gerade gefiel. Etwas Schöneres gibt es doch gar nicht als einen solchen Urlaub voller Freiheit und Abenteuer.

Über Tommy Krappweis
    Tommy Krappweis, geboren 1972, ist unter anderem Comedian, Musiker, Stuntman und Erfinder der Kultfigur Bernd das Brot, für die er mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet wurde. Nach Stationen in der Westernstadt No Name City und bei RTL Samstag Nacht arbeitet er heute als Produzent und Autor und verarbeitet nebenbei die traumatischen Erlebnisse seiner Kindheit.

Über dieses Buch
    »Jeden Sommer brachen wir mit dem VW-Bus auf von München-Neuperlach in Richtung Süden, ins Jugoskorsikalawienland oder irgendwo anders hin, wo es düstere Felsen, düsteres Meer und düstere Ortschaften mit düsteren
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