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Das Verschwinden der Frauen: Selektive Geburtenkontrolle und die Folgen (German Edition)

Das Verschwinden der Frauen: Selektive Geburtenkontrolle und die Folgen (German Edition)

Titel: Das Verschwinden der Frauen: Selektive Geburtenkontrolle und die Folgen (German Edition)
Autoren: Mara Hvistendahl
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Schwangerschaft, wieder ein Mädchen, trug sie aus. Es ist nicht ganz klar, warum sie und Wu Bing sich für eine zweite Tochter entschieden; allerdings dürfte da Liao Lis Unbehagen gegenüber Abtreibungen mitgespielt haben. Ihr Seelsorger missbillige Abtreibungen, erzählt sie mir; sie erwähnt das Verfahren nur ein einziges Mal, nach mehreren Glas warmem Penjing-Bieres. Ihre Entscheidung, das Mädchen zu behalten, dürfte auch dadurch beeinflusst gewesen sein, dass die Abtreibung – die wie die Mehrzahl der geschlechtsselektiven Abtreibungen in China nach der zwanzigsten Schwangerschaftswoche vorgenommen worden war – erst ungefähr ein Jahr zurücklag. Wie dem auch sei, Liao Li und Wu Bing nannten die zweite Tochter Panpan (eine Verformung des Wortes
panwang
, das »Hoffnung« bedeutet),weil sie hofften, sie kündige für den dritten Versuch einen Sohn an. Der bedeutungsschwere Name funktionierte jedoch nicht: Auch der vierte Fetus, der sich in Liao Lis Uterus formte, entpuppte sich als Mädchen. Sie ließ wieder abtreiben.
    Als schließlich doch noch ein Junge kam, war er Liao Lis drittes Kind aus ihrer fünften Schwangerschaft. Er erhielt den Namen Maodan, was »Befruchtetes Ei« bedeutet. Das richtige Ei hatte sich in Liao Lis Uterus eingenistet, und die Eltern schwebten auf Wolken vor Glück. Dieses Geschenk der Vorsehung nach jahrelangem Pech empfand man als besonders köstlich. Für die Eltern künde der Name des Jungen von einem Sieg, erklärte mir Liao Li – und tatsächlich hatten sie ja die Biologie besiegt. Befruchtetes Ei, sagte sie, »bedeutet so etwas Ähnliches wie Kleinod«.
    Am anderen Ende der Stadt bastelte Wu Pingzhang an seiner Wunschfamilie. Nach der Geburt ihrer ersten Tochter wollten er und Liu Mei keine zweite riskieren. Nicht, dass sie das Bußgeld nicht hätten zahlen können. Er verdiente 30 000 Yuan (3500 Euro) im Jahr, mehr als das Vierfache des damaligen Haushaltseinkommens in China. 5 Aber sie sahen nicht ein, wozu sie ausgerechnet noch eine Tochter haben sollten, da doch Liu Mei schon mit dem einen Kind alle Hände voll zu tun hatte. Nach jener ersten Geburt folgte sieben Jahre lang keine zweite – nach der Erfahrung von Ärzten, die in China oder Indien arbeiten, ein Zeichen dafür, dass Liu Mei sich ein paarmal Abtreibungen unterzog. Eines Tages dann brachte Wu Pingzhang seine im fünften Monat schwangere Frau zur Ultraschalluntersuchung und war überglücklich, als er erfuhr, was der Bildschirm offenbarte.
    Um sicherzugehen, dass die Leute von der staatlichen Familienplanung nicht seinen Plan, einen Sohn zu haben, zunichte machten, gab er seine Tochter in die Obhut seiner Eltern und mietete in Nanjing, der Hauptstadt der Provinz Jiangsu, eine kleine Wohnung, in der er Liu Mei für die Dauer der Zeit unterbrachte, in der ihr Bauch mehr und mehr anschwoll. Er selbst durchstreifte tagsüber Nanjing mit dem Fahrrad – wobei er an manchen Tagen achtzig bis hundert Kilometer zurücklegte – und stückelte mit Gelegenheitsarbeiten ein Einkommenzusammen. Abends kehrte er zu Liu Mei in die kleine Wohnung zurück, und gemeinsam erwarteten sie sehnlich die Niederkunft.
    Die Vorsichtsmaßnahme mit dem Ausweichquartier in Nanjing zahlte sich aus, und ein paar Monate später kehrten Wu Pingzhang und Liu Mei als stolze Eltern eineiiger Zwillingsjungen nach Suining zurück. 6 Wu Pingzhang konnte problemlos seinen Klimageräte-Service wiederaufnehmen und hatte bald genug Geld zusammen, um den Jungen identische T-Shirts, identische Plastikautos und identische Spielzeugpistolen kaufen zu können. Sooft er nur konnte, spazierte er, einen Zwilling auf jeder Schulter und sein breites Lächeln auf dem Gesicht, durch das Wohnviertel. Nach seiner Meinung war er der glücklichste Vater weit und breit. »Zwillingsjungen hat nicht jeder!«, erklärte er mir. Erst später begann er, darüber nachzudenken, dass es Probleme gibt, die selbst mit fortgeschrittensten technischen Mitteln nicht zu lösen sind.
    ***
    Eines Nachmittags stehe ich kurz vor Unterrichtsende vor der Grundschule in der Nähe von Wu Bings Wohnung, einem langen, gekalkten Bau, umschlossen von einem asphaltierten Hof, der an einem Gitterzaun endet. Gleich nebenan finden sich Läden, wo es für ein Taschengeld Süßwaren und Spielsachen zu kaufen gibt. Neben mir Eltern, die vor dem Gittertor auf ihre Kinder warten. Die Klingel ertönt, und angeführt von lächelnden jungen Lehrerinnen strömen die Kinder in Reih und Glied auf den Hof.
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