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Das Verschwinden der Frauen: Selektive Geburtenkontrolle und die Folgen (German Edition)

Das Verschwinden der Frauen: Selektive Geburtenkontrolle und die Folgen (German Edition)

Titel: Das Verschwinden der Frauen: Selektive Geburtenkontrolle und die Folgen (German Edition)
Autoren: Mara Hvistendahl
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geschlechtsselektive Abtreibung nicht viel anders als jede x-beliebige andere bedeutende technische Neuerung aus. Wenn sich viele Aspekte des Lebens im Fluss befinden, konzentrieren sich die Menschen einfach darauf, den Wandlungsprozess möglichst ohne Unbequemlichkeiten zu überstehen, und dazu gehört oft die Akzeptanz einer neuen Technik fast als naturgemäße Verfahrensweise. In den Wochen, in denen ich Einwohner von Suining interviewe, sind es hauptsächlich ältere Leute, die das im demografischen Wandel keimende Ungemach erkennen: Leute wie Wang Xiucong, ein drahtiger Großvater, den ich in einemdörflichen Lehmhaus treffe, wo er mit anderen älteren Männern beim Kartenspiel zusammensitzt und fünfzigprozentigen Korn trinkt. Er ist aufgeräumt, schon zur Mittagszeit betrunken und begeistert, einen Ausländer kennenzulernen. Aber seine Stimmung geht in den Keller, als ich das Geschlechterverhältnis bei der Geburt aufs Tapet bringe. »Wo man hinguckt, sieht man Jungen«, sagt er mit einem verdrießlichen Kopfschütteln. »Alle haben jetzt Jungen. Da, sehen Sie den Kleinen …?«, fährt er fort, auf einen Dreikäsehoch deutend, der durch die Tür getapst kommt. »Der wird mal Schwierigkeiten haben, an eine Frau zu kommen, wenn er groß ist.«
    Es ist nicht so, dass die Suininger jungen Eltern das zahlenmäßige Übergewicht von Jungen gegenüber Mädchen nicht bemerken. Das ungleichgewichtige Geschlechterverhältnis um sie herum ist für sie mit Händen zu greifen. Wenn sie ihre Kinder von der Schule abholen, ist das Missverhältnis gar nicht zu übersehen. Sie sehen, dass unter Geschwistern die älteren immer Mädchen sind, und bemerken vielleicht, dass zwischen diesen Mädchen und ihren Brüdern eine große zeitliche Lücke klafft. [9] Sie registrieren diese Einzelheiten; aber wie jemand, der solo in seiner Geländelimousine durch die Gegend gondelt, sich einredet, so groß sei die Umweltbelastung durch ihn im Grunde ja nun auch nicht, sagen sie sich dann, dass andere hier schon für einen Ausgleich sorgen werden.
    Das Ungleichgewicht im Zahlenverhältnis der Geschlechter sei »offenkundig«, sagt der Demograf Shuzhuo Li, während er mich durch eine zentralchinesische Kommune mit hohem Geschlechterverhältnis führt. »Die
laobaixing
, die normalen Chinesen, wissen alle Bescheid.
Jeder
weiß Bescheid. Aber alle denken sie, sie können viel in ihren Sohn investieren und dafür sorgen, dass er unter den besten Bedingungen aufwächstund später mal eine sympathische Schwiegertochter findet. Die Söhne anderer Leute brauchen sie nicht zu kümmern. Sie wissen, dass individuelle Entscheidungen sich auf das Gemeinwohl auswirken, aber sie wollen auf ihre Wahlfreiheit nicht verzichten.« Und warum sollten Eltern nicht darauf vertrauen, dass es ihren Söhnen einmal gut gehen wird? Die Geschichte des heutigen China handelt von unaufhaltsamem Fortschritt. In der Geschlechtsselektion mehr als lediglich ein Problem minderen Ranges zu sehen, hieße, den Glauben an das chinesische Wirtschaftswunder aufzugeben.
    Aber manche Eltern sorgen sich tatsächlich. Für Wu Pingzhang kann es gar nicht anders sein, als dass seine Zwillingsbuben einmal heiraten werden. »Nicht heiraten, keine Kinder haben – unmöglich!«, sagt er zu mir. Und dennoch: So stolz er auf die beiden auch ist, manchmal plagt ihn die Sorge, sie könnten keine Frau finden. Er kommt um Beobachtungen nicht herum, die ihm klarmachen, dass der ganze Betonwohnsilo-Block, wo er zu Hause ist, von Testosteron nur so trieft. Die Besitzer des Fotostudios haben einen Sohn. Die fröhlichen Bäckersleute aus der Provinz Hunan, die unten an der Straße an einem Klapptisch saccharingesüßtes Gebäck verkaufen, haben einen Sohn. Die Frau, die ein Stück weiter die Straße hinunter aus einer Kühltruhe Eiskrem-Lollis verkauft – und zwar meist an Jungen –, hat ebenfalls einen Sohn. Wenn alle diese Jungen mehr oder weniger gleichzeitig erwachsen werden, dann könnte, das sieht Wu voraus, die Lage prekär werden, und für diesen Fall hat er vorgesorgt. In China sind die Heiratsaussichten eines Mannes oft eine Frage der Höhe des Kapitals, das seine Eltern haben anhäufen können, um eine potenzielle Braut anzulocken. Doch was das betrifft, ist Wu überzeugt, dass seine Sammlung von Mao-Anstecknadeln seinen Söhnen einen Vorteil verschaffen wird. In zwanzig Jahren, darauf würde er wetten, werden chinesische Sammler mit echter Nostalgie auf die Kulturrevolution zurückblicken
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