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Das Vermächtnis der Wanderhure

Titel: Das Vermächtnis der Wanderhure
Autoren: Iny Lorentz
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über ihre Wangen liefen.
    Maries Augen wurden ebenfalls feucht. »Es ist so schön, dich wiederzusehen.«
    Hiltrud wurde von einem heftigen Schluchzen geschüttelt.
    »Du hast nie Nachricht geschickt, und ich war fest überzeugt, du seiest tot. Mein Gott, wie oft habe ich um dich geweint – und um Michi!«
    Ihr Blick wanderte zu ihrem Sohn, der als Knabe fortgegangen war und nun als Jüngling mit dem ersten Anflug eines Bartes auf der Oberlippe zurückkehrte. Sie löste einen Arm von ihrer Freundin und umschlang den Jungen. Dabei zitterten ihre Lippen so, dass sie kein Wort herausbrachte.
    Von dem Lärm angelockt, trat Hiltruds Ehemann Thomas aus dem Stall, starrte seine Frau und die beiden Personen an, die diese umschlungen hielt, und schlug das Kreuz. »Bei der Muttergottes! Kann ich meinen Augen trauen?«
    Er eilte auf die Gruppe zu, streckte die Hand aus und berührte Marie an der Schulter, als müsse er sich überzeugen, dass ihn kein Trugbild narrte. Dann sah er Michi an und brach nun ebenfalls in Schluchzen aus.
    Michi schob den Arm seiner Mutter sanft weg und ließ sich von seinem Vater an die Brust ziehen. »Nicht weinen, Papa«, flüsterte er, konnte aber selbst die Tränen nicht zurückhalten.
    Unterdessen quollen Hiltruds und Thomas’ übrige Kinder aus der Tür des Wohnhauses und umringten die Besucher. »Tante Marie! Es ist Tante Marie!«, schrie Mariele, die Älteste, immer wieder.
    Ihre Schwester Mechthild interessierte sich mehr für den schmuckenJungen, der ihr fremd und doch so bekannt vorkam. Schließlich stemmte sie die Arme in die Hüften und schüttelte ungläubig den Kopf. »Das ist tatsächlich Michi! Bei der Heiligen Jungfrau, bist du aber groß und stark geworden!«
    »… und was für ein prächtiges Gewand er trägt!« In Marieles Stimme schwang eine gehörige Portion Neid, denn sie besaß nur zwei einfache, mit einem Band an der Taille geraffte Kleider aus derbem Stoff wie andere Bauernmädchen auch und schwelgte oft in der Erinnerung an jene Tage, die sie mit ihrer Patin Marie am Hof des Pfalzgrafen in Heidelberg verbracht hatte. Damals war sie ähnlich herausgeputzt gewesen wie nun ihr Bruder. Sie streifte Marie mit einem hoffnungsvollen Blick und sagte sich, dass die Tante gewiss nicht ohne reiche Geschenke gekommen war.
    Marie umarmte Hiltruds übrige Kinder und wunderte sich, wie sie in den letzten Jahren gewachsen waren. Mariele war nun fast elf Jahre alt und versprach eine Schönheit mit weißblonden Haaren zu werden. Die hohe Gestalt der Mutter hatte sie jedoch nicht geerbt, ganz im Gegensatz zu Mechthild, die bereits jetzt einen halben Kopf größer war als ihre ältere Schwester. Auch deren Haar war hellblond, aber ihre Gesichtszüge wirkten etwas schlichter als Marieles. Dietmar und Giso, die beiden jüngsten Söhne, waren noch zu kindhaft, als dass man hätte abschätzen können, wie sie sich einmal entwickeln würden. Da Michi nicht vorhatte, den Dienst bei seinem Patenonkel zu verlassen, würde einer von ihnen später einmal den Hof übernehmen.
    Hiltrud wischte sich die nassen Augen mit dem Ärmel trocken und deutete auf die Tür. »Kommt herein! Ihr habt doch gewiss noch nicht zu Abend gegessen.«
    Marie spürte, wie ihr Hunger bei diesen Worten erwachte, und nickte. »Dazu haben wir uns keine Zeit genommen, denn wir wollten so schnell wie möglich bei euch sein. Darf ich dirmeine Zofe Anni vorstellen? Sie hat ein schlimmes Schicksal hinter sich und ihre Geschichte wird dich gewiss interessieren.«
    Anni blickte zu der Bäuerin auf, die ihr wie eine Riesin aus einem Märchen erschien, erwiderte scheu deren Lächeln und sah ihr ehrfürchtig nach, als diese an ihr vorbei auf das Haus zuging. Während Mariele sich bei ihrer Patin unterhakte und sich an sie schmiegte, blieb Mechthild vor Anni stehen und streckte die Hand nach deren Bündel aus. »Komm, gib es mir. Ich bringe es in die Schlafkammer, die für Frau Marie bereitsteht. Du wirst dich gewiss zur Tante setzen wollen.«
    Anni musterte die Zehnjährige und fand, dass sie ihr vertrauen konnte. Sie reichte ihr das Bündel, ließ sie aber nicht aus den Augen, bis sie wusste, in welcher Kammer Mechthild die Sachen ablegte. Dann folgte sie dem Mädchen in die Küche, in der Marie und Michi es sich bereits gemütlich gemacht hatten.
    Trotz ihrer Freude, ihre Freundin und ihren Sohn wiederzusehen, vergaß Hiltrud ihre Pflichten als Gastgeberin nicht und tischte eine Brotzeit auf, die für einen halben Heerzug ausgereicht
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