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Das Vermächtnis

Das Vermächtnis

Titel: Das Vermächtnis
Autoren: Kathryn Lasky
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überwältigen.“ Siv nickte. „Und du glaubst wirklich, dass sie wiederkommen werden?“
    „Der Fjord friert allmählich zu. Wenn das Wasser erst ganz und gar von Eis bedeckt ist, schreckt es die Dämonen nicht mehr ab.“
    „Dann müssen wir eben verhindern, dass der Fjord zufriert.“
    „Aber wie?“
    „So!“ Svenka stieß sich schwungvoll ab, drehte sich auf den Rücken und ließ die Vorderbeine wirbeln. Es donnerte und krachte, als die Eisschollen in Stücke brachen. Svenka hörte erst auf, als der Eisberg ringsum von offenem Wasser umgeben war. Zum ersten Mal seit Tagen spürte Siv wieder, wie der Boden unter ihren Füßen leicht schwankte.
    „Das war großartig, Svenka“, sagte sie. „Leider wird es nicht lange vorhalten. Bald wird es gar nicht mehr richtig Tag, und dann wird das Wasser wieder zufrieren.“
    „Dann muss ich eben wiederkommen.“
    „Du darfst deine Jungen nicht allein lassen. Das kann ich nicht verantworten. Je größer sie werden, desto besser musst du auf sie aufpassen.“
    „Stimmt“, sagte Svenka seufzend. „Trotzdem. Mir fällt bestimmt irgendwas ein.“
    Siv empfand auf einmal überwältigende Dankbarkeit. Ich bin wahrhaftig von Glaux gesegnet! , dachte sie. Ja, ich habe meinen Gefährten verloren, und vielleicht werde ich mein einziges Kind niemals kennenlernen – aber ich hatte und habe die besten Freunde, die man sich wünschen kann: Myrrthe, Gränk und nun auch Svenka!
    Doch Siv machte sich nichts vor. Svenka musste sich jetzt ihren Mutterpflichten widmen. Der Fjord würde über kurz oder lang wieder zufrieren. Siv musste allein zurechtkommen.
    Als Svenka sich verabschiedet hatte, blieb Siv am Rand des Eisbergs sitzen. Sie schaute zu, wie sich nach und nach eine silbrige Schicht auf dem Wasser bildete. Der Wind hatte sich gelegt. Kein Lüftchen kräuselte den Fjord. Die Eisschicht wurde dicker und dicker. Hat sich denn alles gegen mich verschworen? Ist die Natur selbst mit den Hägsdämonen im Bunde?
    In der übernächsten Nacht spürte Siv ein seltsames Ziehen im Magen. Sie wusste sofort, was das zu bedeuten hatte. Heute Nacht würde ihr Sohn schlüpfen. „Ich war mir ganz sicher“, erzählte sie. „Er würde in dieser klirrend kalten, sternfunkelnden Nacht zur Welt kommen, der längsten Nacht des Jahres.“

Weil ich so überstürzt aus dem Palast geflohen war, hatte ich Siv nicht mehr fragen können, wann sie das Ei gelegt hatte. Ich ging aber davon aus, dass es kurz vor H’raths Tod gewesen war. Üblicherweise schlüpft ein Eulenkind, nachdem der Mond einen vollständigen Zyklus durchlaufen hat. Doch in welcher Phase der Mond gestanden hatte, als Siv ihr Ei gelegt hatte, wusste ich nicht. In der letzten und längsten Nacht des alten Jahres jedoch, der ein Tag vorausging, an dem es kaum hell wurde, leuchtete das Ei auf einmal strahlender denn je und rollte immer stärker hin und her. Die letzte Minute des alten Jahres verstrich Sekunde für Sekunde. Am Himmel funkelten unzählige Sterne. Der eisbedeckte Wald glitzerte in ihrem Schein.
    Theo streckte neugierig den Kopf in die Nisthöhle. „Es ist gleich so weit!“, sagte ich.
    „Darf ich reinkommen?“
    Ich nickte und beugte mich gespannt über das Ei.
    Da! Ein winziges Loch erschien auf der schneeweißen Oberfläche. Das Küken hatte die Eischwiele in die Schale gebohrt und bahnte sich seinen Weg nach draußen.
    Im selben Augenblick stürzten sich die zurückgekehrten Hägsdämonen auf Siv.
    Siv ließ sich nicht von dem Licht ablenken, das den Eisberg gelblich färbte. Sie hielt den Dolch ihres verstorbenen Gatten umklammert und stellte sich vor, wie ihr Sohn schlüpfte. Auf dieses Bild konzentrierte sie sich mit aller Macht. Sie sah vor sich, wie die Eischwiele durch die Eierschale drang, wie sich ein erster Riss bildete und über die gewölbte Oberfläche zog. Sie glaubte es leise knacken zu hören. Sie stellte sich auch das Schneddenfyrr vor, das ich gebaut hatte, verbot sich aber darüber nachzugrübeln, wo es sich befinden mochte. Sie ahnte, dass sie ihren Sohn damit in Gefahr gebracht hätte.
    Sie dachte nicht an die Schmerzen in ihrem verstümmelten Flügel. Auch das Wort „Gelb“ hatte sie aus ihrem Wortschatz gestrichen. Für sie gab es kein gelbes Licht. Sie war aber nicht von Zorn und Hass erfüllt, sondern von überströmender Liebe. Ihr Magen war entschlossen, ihr Ga’ hellwach und ihr Herz tapfer, als sie nun mit gezücktem Dolch ihre Höhle verließ und den Angreifern entgegenflog.
    Diesmal
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