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Das Vermächtnis

Das Vermächtnis

Titel: Das Vermächtnis
Autoren: Kathryn Lasky
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allerdings an, mir Gedanken zu machen, weil Theo noch nicht zurückgekehrt war. Aber ich durfte mich jetzt durch nichts und niemanden ablenken lassen. Von nun an war es meine vordringlichste Aufgabe, im Grunde mein einziger Daseinszweck, den jungen König auf seinem Weg ins Leben zu begleiten. Theo hielt mich für einen guten Lehrer. Dieses Küken zu erziehen würde meine größte Herausforderung werden.
    Stunde um Stunde saß ich auf dem Schneddenfyrr. Theo kam nicht. Wäre er doch bloß nicht so versessen auf diese verflixten Steine gewesen! Aber ich hatte kein Recht, ihm Vorwürfe zu machen. Ich selbst hatte ihn ja aufgefordert, noch mehr Kampfkrallen herzustellen.
    Wenn ich beim Brüten eindöste, träumte ich oft von ihm. Eines frühen Morgens erschien mir im Traum jenes erste Paar Kampfkrallen, mit dem er losgeflogen war. Sie waren blutbefleckt. Stammte das Blut etwa von Theo? Ich schreckte aus dem Schlaf hoch. Angst schnürte mir die Brust zu.
    Draußen war es ungewöhnlich warm. Wenn ich mir noch ein paar Dunenfedern auszupfte und das Ei zusätzlich mit dem Hasenohr-Moos zudeckte, das überall auf dem Baum wucherte, würde es nicht auskühlen. Theo hatte mich mit seiner Dickköpfigkeit oft in den Wahnsinn getrieben, aber ich hatte den jungen Uhu ins Herz geschlossen. Ich musste wissen, wie es um ihn stand.
    Ich verließ die Nisthöhle und sammelte Birkenrinde und verdorrtes Moos. Das Feuer brauchte nicht besonders heiß zu sein. Hauptsache, die Flammen brannten einigermaßen ruhig. Ich beugte mich vor – und fuhr erschrocken zurück. Als ich mich gefasst hatte, schaute ich ein zweites Mal hin. Das durfte nicht wahr sein!
    Theo und ein schwer bewaffneter Schnee-Eulerich kreisten über einer Landzunge im Bittermeer. Der Schnee-Eulerich hielt im einen Fuß einen Säbel, im anderen einen Dolch, und aus seinem Schnabel ragten tödlich spitze Eissplitter. Ich erkannte ihn sofort. Es war Fürst Arrins Vetter Elgobad. Auch er hatte sich dem Pakt mit den Dämonen angeschlossen. Als wir beide noch Kinder gewesen waren, hatten wir die Sommermonate am selben Fjord verbracht. Elgobad war ein gefürchteter Krieger. Er hielt sich beim Kämpfen an keine Regel.
    In Kriegszeiten galt nämlich ein Ehrenkodex, nach dem sich alle Kämpfenden zu richten hatten. Die erste Regel, die Elgobad gerade brach, war die der Waffengleichheit. Er selbst war bis an die Schnabelkante bewaffnet. Theo dagegen trug nur die Kampfkrallen. Da Elgobad aber noch nie Kampfkrallen gesehen haben konnte, musste ihm Theo unbewaffnet erscheinen.
    Theo hielt respektvoll Abstand von Elgobad. Er hatte sogar die Flügelspitzen gesenkt, um Elgobad zu zeigen, dass er nicht auf einen Kampf aus war. Elgobad kümmerte sich nicht darum und bedrängte Theo. Die Bilder im Feuer waren gestochen scharf. Ich schnappte sogar ein paar Gesprächsfetzen auf.
    „Wer bist du und wo willst du hin?“, fragte Elgobad. Die Abendsonne ließ seine Waffen gleißend aufblitzen.
    „Was geht dich das an?“, entgegnete Theo. „Hier ist kein Kriegsgebiet.“
    „Überall ist Kriegsgebiet!“
    „König H’rath hat diesen Teil des Bittermeers per Gesetz als neutral erklärt.“
    „König H’rath ist tot. Jetzt gelten neue Gesetze. Also: Wie heißt du?“
    Theo antwortete nicht. Sag was! , dachte ich. Irgendwas! Du bist doch sonst auch nicht auf den Schnabel gefallen.
    „Und wie heißt du ?“, fragte Theo schließlich zurück.
    „Ich hab zuerst gefragt! Halte mich gefälligst nicht zum Narren, Bürschchen!“
    „Ich könnte doch genauso gut einen Namen erfinden. Das würdest du überhaupt nicht merken. Ich könnte behaupten, dass ich Glauclan heiße oder Morfyr oder Hegnyk …“
    Die Flammen loderten höher. Theo ratterte lauter Namen herunter und flog dabei wie ein Rasender im Kreis. Er achtete aber weiterhin darauf, gebührenden Abstand von Elgobad zu halten. Nach allgemeiner Übereinkunft galt er damit nicht als Angreifer und durfte nicht attackiert werden.
    „Hör auf, Blödsinn zu quasseln, und sag mir endlich, wer du bist und was du hier zu suchen hast!“, herrschte Elgobad ihn an.
    „Und wenn ich dich anlüge? Was machst du dann?“
    „Niemand wagt es, Fürst Elgobad anzulügen.“
    „Ha, jetzt hast du mir verraten, wie du heißt! Freut mich überhaupt nicht , deine Bekanntschaft zu machen.“
    Elgobad war sichtlich verdutzt. Der freche Grünschnabel hatte ihn überrumpelt. Er legte unwillkürlich das Gefieder an, aber nicht aus Angst, sondern vor Scham. Die
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