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Das verlorene Land

Das verlorene Land

Titel: Das verlorene Land
Autoren: J Birmingham
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sich drei Männer über seine Frau her.
    Miguel hatte nur wenige Sekunden lang dieses grausige Geschehen beobachtet, aber es genügte. Noch mehr von diesem Horror anzusehen wäre gleichbedeutend damit gewesen, selbst daran schuld zu sein. Er ließ das Fernglas fallen und bemühte sich aus dem grünen, wuchernden Dickicht aufzustehen. Sein Magen rebellierte, und er musste würgen, als er sich umdrehte, um vom Kamm des Hügels zu seiner Tochter hinabzusteigen.
    Sie war jetzt womöglich sein einziges noch lebendes Kind.
    Er taumelte den Abhang hinunter, stürzte beinahe hin, stakste hilflos wie eine Puppe seiner ältesten Tochter entgegen und rannte sie in seiner blinden Panik beinahe um.
    »Vater? Papa?«

    Mit heftig zitternden Händen nahm er ihr die Zügel aus der Hand und schaffte es irgendwie, sich in den Sattel zu heben. Vielleicht war es ja jemandem gelungen zu flüchten, vielleicht stammten die Schüsse ja auch von den Überlebenden, die diese Banditen bekämpften. Er könnte jetzt hinüberreiten, um ihnen zu helfen. Vielleicht würden sie die Angreifer in die Flucht schlagen.
    Vielleicht, nur vielleicht …
    »Was ist denn, Vater? Sag’s mir«, bat Sofia mit erstickter Stimme. Auch sie hörte das Gewehrfeuer und die Schreie, die über den Hügel hallten.
    Miguel zog seine Winchester aus dem Halfter und spürte ihre tödliche Kraft in den Händen. Es war zu spät, viel zu spät, um seine Familie zu retten, aber es war höchste Zeit, sich mit denjenigen zu befassen, die sie auf dem Gewissen hatten.
    Vielleicht …
    Er prüfte die Ladung und schob das Gewehr ins Sattelhalfter zurück. Er stieß die Fersen in die Seiten seines Pferdes, und es kletterte den Hügel hinauf. Sofia stieg auf ihr Pony und folgte ihm. »Ich komme mir dir«, rief sie aus.
    Miguel schüttelte den Kopf. »Nein, du bist viel zu eigensinnig, das ist gefährlich. Bleib hier. Ich werde …«
    Ein lautes Krachen aus dem Lauf einer schweren Waffe donnerte über die Ebene wie fernes Donnergrollen. Er drehte sich im Sattel um und hob das Fernglas so hastig, dass er sich damit gegen den Kopf stieß. Seine Frau lehnte gegen die Wand der Veranda, die um das Haus herum führte. Einer der drei Vergewaltiger spuckte sie an. Sie sank langsam zu Boden und hinterließ eine dunkle, schmierige Spur auf der weißen Mauer.
    Ein leiser Ton drang aus Miguels Mund. Eine Mischung aus Stöhnen und Wimmern. Ein graues Flimmern trat vor seine Augen, dunkle Flecken erschienen, und er schwankte heftig. Beinahe wäre er ohnmächtig geworden.

    Mit einem Mal wurde es ruhig, nur gelegentlich waren die Stimmen der Banditen zu hören. Die Waffen verstummten. Er suchte die Umgebung nach Hinweisen ab, ob jemand überlebt hatte, einer seiner Söhne vielleicht oder Mariellas Brüder. Vielleicht waren sie in Deckung gegangen und warteten nur darauf, dass er ihnen zu Hilfe eilte.
    Jetzt war Sofia auf einmal neben ihm und nahm ihm das Fernglas aus der Hand, um sich selbst Gewissheit zu verschaffen.
    »Nein«, flüsterte sie. »Bitte nicht.«
    »Es ändert nichts«, stieß Miguel hervor, als er wieder zu sich kam. »Warte hier.«
    Sofia nahm die Zügel seines Pferdes. Er drehte sich zu ihr um und sah sie an mit einem Gesichtsausdruck, der sie zusammenzucken ließ. Sie wich ein Stück zurück, behielt die Zügel aber fest in der Hand.
    »Sofia«, sagte er ruhig. »Gib mir die Zügel.«
    »Nein, Papa, bitte. Lass mich hier nicht allein zurück. Geh nicht da runter. Sie werden dich umbringen, und dann habe ich überhaupt niemanden mehr.«
    Das Gesicht seiner Tochter war eine verzerrte Fratze der Angst und des Schmerzes und verschwamm vor seinen Augen, die sich mit Tränen füllten. Miguel konnte kaum noch sprechen. »Sofia, du denkst vielleicht, du bist zu alt für eine Ohrfeige«, presste er hervor. »Aber du wirst gleich eine bekommen, wenn du mir nicht sofort die Zügel gibst.«
    »Das ist mir egal, wenn du am Leben bleibst«, sagte sie. »Bitte!«
    Miguel hatte das Gefühl, er müsste sterben. Ganze Kontinente von Trauer und Wut, gigantische tektonische Platten, hoben sich, zerbrachen und zermalmten sich gegenseitig in seinem Innern. Sein Herz schien kurz davor zu explodieren. Durch dieses ganze Aufbäumen widerstreitender Gefühle hindurch hielt ihn nur eines in der Wirklichkeit, und das war Sofias kleine blasse Hand, die seinen
Arm umklammert hielt und verhinderte, dass er sich kopfüber in ein brutales Handgemenge und damit in den sicheren Tod stürzte.
    Sein ganzer Körper
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