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Das Verlies der Stuerme

Das Verlies der Stuerme

Titel: Das Verlies der Stuerme
Autoren: Boris Koch
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das Meer hinaus. Er empfand Mitleid mit diesem Fremden, der so ganz andere Schriftzeichen verwendete, und wollte ihm helfen. Es müsste doch ein Leichtes sein, mit den Drachen dort hinzufliegen und ihn zu retten! Sie konnten jeden Tag Entfernungen zurücklegen, für die ein Schiff eine gute Woche oder noch länger benötigte. Irgendwie müssten sie herausfinden können, welchen Weg die Flasche genommen hatte, wenn sie schon die Nachricht nicht entziffern konnten. Einen Schiffbrüchigen zu retten, galt sicher auch als Heldentat. Und wenn sich Yanko dann noch mit den Münzmolchen anlegen wollte, sollte er das doch tun. Ben würde Anula mit der Errettung eines Verhungernden beeindrucken, das war heldenhaft genug. Jedenfalls, solange Yanko nicht vor ihm eine güldene Krone fand.
    »Ich weiß nicht, woher die Wellen kommen«, sagte Anula, als könne sie seine Gedanken lesen, und legte den Kopf auf Bens Schulter. »Wir haben die Flasche nicht kommen sehen, nur auf der letzten Welle torkeln.«
    Ben nickte. Vielleicht könnten sie hoch oben in der Luft die Meeresströmungen erkennen, vom Rücken eines Drachen aus sehen, woher die Flasche gekommen sein musste.
    In den letzten Monaten hatten sie nichts anderes getan,
als von einem schönen Ort zum anderen zu fliegen, je weiter weg vom Großtirdischen Reich, desto besser. Aiphyron, der von allen am weitesten herumgekommen war, hatte ihnen den Roten Wasserfall von Algone im Sonnenaufgang gezeigt, wenn das Wasser weithin leuchtete wie eine Feuersäule, und bei einer steifen Brise die Singenden Klippen am Ende einer Meeresenge, deren Name Ben schon wieder vergessen hatte. Einen gigantischen Baum, dessen Wipfel fast so ausladend war wie halb Trollfurt. Seine violetten, handförmigen Früchte schmeckten süßer als alles, was Ben bisher gegessen hatte, und jeder Finger doch ein wenig anders.
    Sie waren weit im Süden gewesen, in Ländern, in die sich der Sommer zurückzog, wenn in Trollfurt Winter herrschte. Länder, in denen die Bauwerke und Trachten der Menschen völlig fremd waren. Seinen sechzehnten Geburtstag hatte Ben auf dem Gipfel der Himmelsklippe gefeiert, einem riesigen Berg mit senkrechter Nordwand, auf dem der Drache Kaedymia herangewachsen war. Sie hatten oben gesessen, die Beine über eine Felskante baumeln lassen und den Sonnenuntergang beobachtet. Dann waren sie im Sturzflug in die Nacht gestürmt. Kurz hatten sie sogar das Land besucht, in dem ewiges Eis herrschte und das tatsächlich so schön war, wie Aiphyron geschwärmt hatte, doch auch fürchterlich kalt, viel zu kalt für Anula.
    Vieles hatten sie seit ihrer Flucht gesehen, sich beinahe täglich neue Ziele gesucht, waren einfach ihren Launen und den Winden gefolgt. Nur die Städte hatten sie stets gemieden und darauf geachtet, anderen Menschen aus dem Weg zu gehen, weil sie nicht in die Fänge des Ordens geraten wollten, der auf sie ein Kopfgeld ausgesetzt hatte und allen
Drachen die Flügel abschlug, um sie zu gefügigen, sprachlosen, an den Boden gefesselte Kreaturen zu machen.
    Wenn sie also sowieso keine genauen Pläne hatten, warum sollten sie da nicht nach einer Insel suchen, auf der jemand festsaß, und ihn retten?
    Als er es vorschlug, war niemand dagegen, und Anula drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Vielleicht war das nur eine späte Entschuldigung dafür, dass sie seine Muschel klein genannt hatte, aber wahrscheinlich hatte Yanko recht: Mädchen wollten Jungen, die immer neue Heldentaten vollbrachten. Gut, dass er das jetzt wusste. Er würde nie wieder aufhören mit den Heldentaten.
    Als die Sonne kurz darauf den Horizont berührte und sich der Himmel rot färbte, forderte Yanko den schilffarben geschuppten Drachen Juri zu einem Wettschwimmen heraus, wie er es seit zehn Tagen jeden Abend getan hatte. So sehr sich Yanko auch anstrengte – auch diesmal zog der Drache mühelos davon und gewann mit zwei Körperlängen Vorsprung. Seinen gewaltigen Körperlängen, nicht denen eines fünfzehnjährigen Jungen. Er war am Wasser geboren, es war sein Element, aber als Yanko prustend und keuchend an den Strand torkelte, schwor er, eines Tages werde er ihn schlagen. Juri ließ ein amüsiertes Schnauben hören und verzichtete ganz auf seine üblichen ausufernden Ausführungen darüber, warum dies nie geschehen werde.
    Dann suchten sich die beiden Paare jeweils ein abgeschiedenes Plätzchen und zogen sich zurück, während die Drachen weiterdösten oder im letzten Tageslicht über das Meer flogen und nach
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