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Das Verlies der Stuerme

Das Verlies der Stuerme

Titel: Das Verlies der Stuerme
Autoren: Boris Koch
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Fischen schnappten, die sich an die Oberfläche wagten.

    Stunden später lag Ben noch immer wach, an Anulas Rücken gekuschelt und den Arm auf ihrer Schulter, so wie sie es mochte. Seit sie Gefangene des Ordens gewesen war und der Eishauch eines weißen Drachen sie berührt hatte, hungerte sie nach jedem Sonnenstrahl und nach menschlicher Wärme, auch wenn die Kälte des Drachen längst aus ihrem Körper verschwunden war – wenn auch noch nicht aus ihren Gedanken und Träumen. Sie schlief besser, wenn sie wusste, dass jemand über ihren Rücken wachte, und sie wollte, dass Ben dieser Jemand war. Niemandem sonst erzählte sie von der Kälte in sich, sie hielt sie für eine Schwäche, und Schwächen gab man nicht zu.
    Eine widerspenstige Locke kitzelte Ben in der Nase, aber das war es nicht, was ihn am Einschlafen hinderte. Anula atmete regelmäßig und ruhig, und auch er schreckte seit vielen Nächten nicht mehr aus Albträumen hoch. Die Bilder von Nicas Vater, den er im Kampf getötet hatte, um sie vor dem rituellen Opferpfahl zu retten, machten ihm seltener zu schaffen als noch vor Monaten. Auch plagte ihn schon lange nicht mehr jede Nacht die Angst, der Orden der Drachenritter könnte ihn aufspüren. Fern des Großtirdischen Reichs hatten sie alle mit jeder ruhigen Nacht diese Angst weiter abgestreift; Ben fühlte sich nicht mehr wie ein Gejagter.
    Und doch lag er nun wach und starrte in einen Himmel, in dem er zwar die meistern Sterne von daheim kannte, doch sie standen an ungewohnter Stelle. Über dem Meer bildete eine Gruppe von neun hellen Sternen ein Gesicht, das er in Trollfurt nie gesehen hatte.
    Er dachte an seine Heimatstadt am Fuß des Wolkengebirges, an seine verhasste, trinkende Mutter, die ihn oft geschlagen hatte und schließlich in den Dherrn gesprungen
und ertrunken war, an die heiligen Spiele in Chybia und wie sie dem Orden ein ums andere Mal entkommen waren. Daran, wie sie Anula und den Drachen Marmaran aus dem Kloster mit den zwölf Zinnoberzinnen befreit hatten. An den schwelenden Bürgerkrieg zwischen Ordensrittern und Ketzern, die sich selbst Freiritter nannten und doch kein bisschen besser zu Drachen waren, denn sie hielten sie für Geschöpfe Samoths, die unterdrückt werden mussten, und schlugen ihnen ebenso die Flügel ab wie der Orden. Die gleiche Handlung, nur zwei unterschiedliche Lügen als Rechtfertigung und Begründung. Und er dachte an den Münzmolch, der unter der Klippe dort drüben lauerte.
    All das war weit weg. Endlich.
    Endlich hatte er geschafft, dies alles hinter sich zu lassen, die Bilder der gehenkten Ketzer vor Vierzinnen und die der zusammengepferchten flügellosen Drachen im Kloster mit den zwölf Zinnoberzinnen plagten ihn nicht mehr. Er dachte kaum noch daran, nur eben jetzt. Und immer dann, wenn er sich bewusst machte, dass er nicht mehr daran dachte.
    Verdammt!
    Er verabscheute die Erinnerung an Drachen, denen er nicht hatte helfen können.
    Tief atmete er durch und zwang sich zu anderen Gedanken. An die Flaschenpost und den Schiffbrüchigen, der irgendwo dort draußen auf Hilfe hoffte. Vielleicht war er längst gerettet oder verhungert, von wilden Tieren gefressen oder ertrunken beim verzweifelten Versuch, an eine Planke geklammert nach Hause zu paddeln. Ben wusste nicht, wie er aussah, doch er hatte sich ihn in den letzten Stunden immer wieder vorgestellt, dürr und verdreckt und ausgelaugt und voller Schrammen.

    Warum hatten gerade sie die Flaschenpost gefunden? War das Vorsehung, ein Zeichen? War es eine ihnen auferlegte Aufgabe, ihm zu helfen?
    Ihn ärgerte, dass er die Nachricht nicht entziffern konnte, dass er auf Mutmaßungen angewiesen war, von wem und woher die Flasche stammte.
    Hatte ihn das wach gehalten?
    Die Überzeugung, dass irgendwo dort draußen jemand darauf hoffte, von ihnen gerettet zu werden? Dabei kannte er ihn doch gar nicht. Aber wie sollte derjenige denn auf seine Verwandten und Freunde zählen, wenn diese keine Nachricht von seiner Not hatten?
    Langsam löste sich Ben von Anula und hob den Kopf, musterte ihr Gesicht mit den vollen roten Lippen, das auch im Mondlicht schimmerte wie von Eis überzogen. Eine widerspenstige Haarsträhne hing ihr quer über die Nase. Obwohl sie zwei Jahre älter war, wirkte sie im Schlaf so klein und verletzlich. Das war sie nicht, natürlich nicht, aber sollte der Orden sie ein weiteres Mal in die Hände bekommen, würde ihr all ihre Stärke nicht helfen. Jeder Mensch konnte gebrochen und getötet werden.
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