Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Verhör

Das Verhör

Titel: Das Verhör
Autoren: Robert Cormier
Vom Netzwerk:
durch das neue von Stephen King, obwohl es ihm gut gefiel. Emma konnte auch ganz toll schreiben. Letztes Jahr hatte sie bei einem Aufsatzwettbewerb einen Preis bekommen. In dem Aufsatz, dem sie die Überschrift »Feste feiern« gegeben hatte, ging es darum, wie Feiertage begangen wurden und wie sich die Festlichkeiten im Lauf der Zeit verändert hatten. Sie hatte ihm erklärt, dass »Feste feiern« einen doppelten Sinn hatte, weil man das auch als »feste feiern« verstehen konnte; das war etwas, was sie als Wortspiel bezeichnete. Das gefiel ihm so gut an Emma: Wenn sie ihm etwas erklärte, machte sie das nicht so, dass er sich dabei dumm vorkam. Stattdessen teilte sie ihr Wissen mit ihm und gab ihm das Gefühl, es wirklich wert zu sein, dass sie ihn daran teilhaben ließ.
    Als er aus dem Bett stieg, hörte er im Badezimmer nebenan die Dusche laufen. Seine Mutter war Frühaufsteherin, kam morgens aber erst dann in die Gänge, wenn sie erstens eine Tasse schwarzen Kaffee getrunken hatte und zweitens unter der Dusche gewesen war. Auch Emma wurde früh wach, las dann aber noch ein, zwei Stunden im Bett.
    Sein Vater war auf Geschäftsreise in Lincoln, Nebraska. In drei Tagen würde er wieder nach Hause kommen. Sein Vater war ein fanatischer Footballfan und hatte eine Dauerkarte für die Spiele der New England Patriots. Manchmal kam Jason mit, aber er konnte nichts Spannendes daran finden, wie sich zweiundzwanzig Männer auf einem Spielfeld herumschlugen. Er war jedoch gern mit seinem Vater zusammen und tat deshalb so, als hätte er Interesse an Football. Wenn die Patriots verloren hatten, musste er immer ganz traurig und betroffen tun. Bei jeder Niederlage der Patriots hatte sein Vater etwas, was seine Mutter den totalen Durchhänger nannte.
    Jason setzte sich auf die Bettkante und bedachte den Tag, der vor ihm lag. Am Vormittag würde er als Gast seiner Mutter mit ihr ins Gemeindezentrum gehen und in den Zeiten, in denen das Schwimmbecken zur freien Verfügung stand, ein bisschen schwimmen, während sie ihre Übungen an den Fitnessgeräten absolvierte. Dann zum Mittagessen nach Hause und danach hatte er den ganzen Nachmittag frei.
    Seine Mutter würde ihre ehrenamtliche Tätigkeit im Krankenhaus von Monument ausüben und Emma wollte den Tag bei Kim Cambridge verbringen. Kims Familie hatte einen Swimmingpool. Emma hatte Jason zum Mitkommen aufgefordert, aber er freute sich auf einen freien Nachmittag, an dem er tun und lassen konnte, was er wollte. Abhängen, vielleicht ein bisschen mit dem Rad herumfahren, fernsehen oder das Buch von Stephen King zu Ende lesen. Brad Bartlett hatte ihn eingeladen, am Nachmittag in seinem Swimmingpool herumzuplantschen, aber Jason wusste, dass er nur deshalb eingeladen worden war, weil ihre Mütter in einem Haufen Komitees zusammenarbeiteten. Brad spielte anderen gern Streiche, und man konnte nie wissen, was er als Nächstes tun würde. Aber seine kleine Schwester Alicia konnte Jason gut leiden. Sie war ein richtiges Ass im Puzzeln, und er sah gern dabei zu, wie das Bild entstand, wenn sie ein Teil nach dem anderen an seinen Platz legte. Vielleicht würde er später am Tag bei ihr vorbeischauen, aber er würde keine Badehose mitnehmen.
    Jedenfalls, der Tag ragte riesengroß vor ihm auf, frei, ohne Unterricht, ohne Verpflichtungen. Soviel er wusste, hatte er noch nicht mal irgendwelche Arbeiten im Haushalt zu erledigen, und er lag da und freute sich daran, dass noch viele lange Sommertage vor ihm lagen.

 
     
    Die Leiche der siebenjährigen Alicia Bartlett wurde, nur fünfhundert Meter von ihrem Zuhause entfernt, im dichten Wald zwischen den Stämmen von zwei Ahornbäumen gefunden, die einander überlappten. Sie war mit einem Haufen Blätter, Zweigen und Müll zugedeckt. Das war auch der Grund, warum ihre Leiche nicht gleich bei der ersten Durchsuchung des Geländes entdeckt worden war.
    Ihr Mörder hatte sie offenbar voller Zärtlichkeit dort hingelegt, hatte ihr die Arme über der Brust gekreuzt, das Kleid züchtig über die Knie heruntergezogen und ihre langen, schwarzen Haare sorgfältig zurechtgestrichen, sodass sie das Gesicht umrahmten. Aber den Ausdruck, der in ihren Augen erstarrt war - Entsetzen und Erstaunen -, hatte der Täter nicht auslöschen können, und er hatte sich nicht die Mühe gemacht, diese verstörten Augen zu schließen.
    Ihre Leiche wurde bei der zweiten Durchsuchung der Umgebung in der Dämmerung entdeckt, und zwar von einem freiwilligen Helfer aus der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher