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Das Verhör

Das Verhör

Titel: Das Verhör
Autoren: Robert Cormier
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machte das Fenster auf und starrte bedrückt auf die öde, sonnenlose Straße hinaus und zu den schweren Wolken hoch, die über den Gebäuden der Innenstadt hingen. Selbst zu dieser frühen Stunde konnte er die Hitze spüren, die vom Asphalt aufstieg, wie ein unsichtbarer Ruß, den er fast schmecken konnte. Er hatte seit vierundzwanzig Stunden nicht mehr geschlafen.
    Er hatte keine Verdachtsmomente, keine Ermittlungsansätze, keine Sachbeweise.
    Allerdings hatte er jemanden, der möglicherweise als Tatverdächtiger infrage kam - je nachdem, wie das Gespräch verlief, das er für den späteren Vormittag geplant hatte.

 
     
    Jason Durrant konnte es kaum glauben, dass Alicia Bartlett tot war. Nicht nur tot, sondern ermordet. Überfallen und so heftig geschlagen, dass sie daran starb. Er konnte sich niemanden vorstellen, der so böse, so abgrundtief schlecht war, dass er jemandem so etwas antat. Noch dazu einem netten kleinen Mädchen wie Alicia. Mit Gesichtszügen, die sie wie eine kleine alte Dame aussehen ließen, den großen Zähnen, die für ihren Mund zu gewaltig waren, und auf den Backen ein paar Sommersprossen, die sie hasste.
    Er merkte, dass sein Kinn ein bisschen wacklig wurde und ihm Tränen in die Augen stiegen. Dabei wollte er nicht weinen. Schon vor langer Zeit hatte er sich geschworen, nicht mehr zu heulen. Als kleiner Junge hatte er oft geweint, zum Beispiel wenn er nachts ein Geräusch hörte und glaubte, es wäre ein Einbrecher ins Haus eingedrungen. Aber das war Kinderkram und zählte nicht. Das eigentliche Weinen, das wirklich zählte, geschah dann später in der Schule, wenn er sich Sorgen machte, weil er mit seinen Hausaufgaben nicht fertig geworden war oder eine Frage der Lehrerin nicht beantworten konnte oder die Antwort vielleicht sogar wusste, aber Angst hatte und sich nicht zu melden wagte Im Klartext: Er heulte nicht richtig, aber sein Kinn wackelte hin und her und Tränen stiegen ihm in die Augen, und er musste ganz starr und steif werden, damit das alles aufhörte. Aber er schaffte es nicht immer, dass es aufhörte.
    Dann kam es zu der Schlägerei mit Bobo Kelton, die alles veränderte. Damals hatte er sich geschworen, nicht mehr zu weinen. Nicht während der Schlägerei, aber danach. Und dabei war es noch nicht mal eine Schlägerei sondern ein einziger, herrlicher, wunderschöner Schlag, der Bobo zu Boden warf. Das überraschte Staunen und der Schock in Bobos Gesicht waren ein fantastischer Anblick gewesen.
    Und so war es passiert: Bobo schubste ihn von hinten während sie in der Schulcafeteria in der Schlange standen. Aber das war nicht der eigentliche Grund, warum Jason sich umgedreht und Bobo eine verpasst hatte. Der eigentliche Grund waren die vielen Dinge, bei denen Jason ihn im Lauf des Jahres beobachtet hatte. Hinterhältige Dinge. Jemandem ein Bein stellen, einem anderen das Hemd aus der Hose ziehen, an einem Schließfach die Tür so zuwerfen, dass die Finger von Johnny Maynard dazwischengerieten und eingeklemmt wurden.
    Niemand unternahm etwas gegen Bobo. Man akzeptierte, was er tat. Oder sah seine bösartigen kleinen Streiche vielleicht gar nicht. Aber Jason war stolz auf seine Beobachtungsgabe. Wenn man ein Außenseiter ist, zu keiner Clique gehört, dann fallen einem Dinge auf, die anderen nicht auffallen. Und Jason war Zeuge von Bobos allerschlimmster Tat. Von dem, was er Rebecca Tolland angetan hatte.
    Am Tag vor dem Vorfall in der Cafeteria hatte Jason gesehen, wie Bobo Kelton zwischen zwei Unterrichtsstunden direkt auf Rebecca Tolland zusteuerte, die an ihrem Schließfach stand. Er schob seinen Körper dicht an ihren heran und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Rebecca schüttelte schockiert und verärgert den Kopf. Bobo trat zurück, streckte dann die Hand aus und zwickte sie in die Brust. Zwickte sie tatsächlich in eine ihrer kleinen Brüste. Das alles ereignete sich innerhalb weniger Sekunden, während andere Schüler an ihnen vorbeisausten und so darauf konzentriert waren, schnell in die Klasse zu kommen, dass sie nichts von dem mitbekamen, was hier vor sich ging. Jason beobachtete, wie Bobo davonging und Rebecca blass und zitternd zurückließ. Als das erste Klingeln ertönte, ging auch Jason. Sein Herz hämmerte vor Wut, denn er wusste ja, dass Bobo wahrscheinlich wieder ungeschoren davonkommen würde. Jason bezweifelte, dass Rebecca den Vorfall melden würde, und damit hatte er Recht.
    Am nächsten Tag stupste Bobo Jason leicht von hinten an, als sie in der Cafeteria
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