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Das vergessene Zepter

Das vergessene Zepter

Titel: Das vergessene Zepter
Autoren: Tobias O. Meißner
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rechnete ihr vor, daß es noch nicht soweit sein konnte, daß sie mindestens zwölf Tage brauchen würden vom Meer aus bis hierher, aber jeder einzelne Tag fand kein Ende, und in den Nächten quälten Naenn Träume und Hunger und Schweiß, und sie wälzte sich in ihrem Bett hin und her und bildete sich Wehen ein, wo noch lange keine sein konnten.
    Sie betete viel. Zu den Zehn und besonders zu Lun, sowie zu den vielen kleinen oben in den Bäumen zwischen den Blättern hausenden Schutzgeistern der Schmetterlingsmenschen. Sie betete für ihren Vater, ihre Mutter, ihre beiden Großmütter, ihre kleine Schwester und ihren großen Bruder. Für die Hauptfrau des Schmetterlingshaines, für Riban Leribin, Rodraeg Talavessa Delbane und Ryot Melron, ihren Liebhaber, der so ungreifbar war wie ein Traum.
    Sie dachte ans Davonlaufen, ans Frei- und Ungefragtsein, an Sonnen und Monde unter unverhülltem Himmel, gewiegt vom Rauschen machtvoller Bäume.
    Sie dachte an vorher und nachher, an die ungewisse Zukunft ihres winzigen schutzbedürftigen Kindes, an giftblubbernde Flüsse, geschlachtete Wale und an den geheimniswabernden Brief, den der Kurier ihnen von Gerimmir überbracht hatte.
    Als sie an diesem Tag, dem siebzehnten des Sonnenmondes, am späten Vormittag vom Marktplatz zurückkehrte und die Kutsche von Slaarden Edolarde vor dem Haus des Mammuts halten sah, blieb sie wie angewurzelt stehen und beobachtete aus sicherer Entfernung, als sei sie nur eine der Schaulustigen, die sich gerade in der Gasse aufhielten.
    Als erster stieg Bestar Meckin aus. Der riesige, kraftstrotzende Klippenwälder hinkte, machte aber einen gutgelaunten Eindruck, sagte gerade etwas Spaßiges und hielt den anderen übertrieben vornehm die Kutschentür auf. Ihm folgte Hellas Borgondi. Der knapp dreißigjährige Bogenschütze mit den bereits schlohweißen Haaren tauchte unter den neugierigen Blicken der Umstehenden etwas ab und beeilte sich, ins Haus zu gelangen. Dritter war Eljazokad, der junge Magier, der erst vor einem Mond zum Mammut gestoßen war. Naenn spürte, wie sie aufatmete. Es gab niemals eine Garantie dafür, daß sie alle wieder zurückkehrten. Bei ihrem allerersten Auftrag waren sie zu viert aufgebrochen und nur zu dritt wiedergekommen. Diesmal schien zumindest in dieser Hinsicht alles geklappt zu haben. Und Bestar war gut gelaunt gewesen. Hellas war niemals gut gelaunt. Eljazokad sah ernst aus, aber nicht verwundet oder zerknirscht. Auch der Zeitplan stimmte. Cajin hatte sie sogar erst ab morgen erwartet, wie er immer wieder betonte.
    Aber Rodraeg fehlte noch. Wo blieb Rodraeg? Weshalb stieg er nicht aus?
    Eljazokad, der sich umsah, bemerkte sie, wie sie dort stand und unsichtbare Wände häufte zwischen sich, die Kutsche und die Welt. Er lächelte, hob grüßend die Hand und winkte sie heran.
    Er meint mich. Ich gehöre doch dazu. Ich bin eine von ihnen. Irgend etwas stimmt mit Rodraeg nicht.
    Furcht und Zweifel platzten von ihr ab wie die äußere grüne Schale einer Walnuß. Sie ließ die eingekauften Brote fallen und rannte zur Kutsche hin. Bestar hieb ihr jubelnd seine Pranke auf die Schulter, das war seine Art einer herzlichen Begrüßung. »Das wird schon wieder«, sagte er. »Mach dir keine Sorgen.«
    Â»Rodraeg«, hauchte sie.
    Da saß er, im Dunkel des Kutscheninneren. Rodraeg. Er trank aus einer kleinen Glasphiole, schlürfte die unbekannte Flüssigkeit in sich hinein, als gelte es sein Leben, und sah grauer und älter aus, als Naenn ihn in Erinnerung hatte. Äußerst gekrümmt saß er da, eine Hand in die Brust gekrallt. Seine Schläfen und seine Oberlippe glänzten feucht. Als er sie bemerkte, lächelte er, und es ging ein Ruck durch ihn. Er entfaltete sich, nahm ihre Hand, seine zweite Hand faßte die Bestars, und so zogen sie ihn hinaus, wo er schier erschlagen wurde vom hellen Licht. Rodraeg war schwer krank, das brauchte Naenn niemand zu erklären. Cajin hatte ihr erzählt, daß Rodraeg schon vor dem Aufbruch zum Meer mit ihr hatte sprechen wollen, damit sie ihm vielleicht Kräutertränke brauen konnte gegen die Vergiftung, die er aus der Schwarzwachsmine mitgebracht hatte, aber sie hatte ihm ja nur von sich erzählt, von sich und Ryot und dem Kind, und so war für ihn alles andere in Vergessenheit geraten. Bis es zu spät dafür gewesen war.
    Ich bin eine eigensüchtige
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