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Das Verbrechen von Orcival

Das Verbrechen von Orcival

Titel: Das Verbrechen von Orcival
Autoren: Émile Gaboriau
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ist.«
    Der würdige Bürgermeister streckte völlig entgeistert die Arme zum Himmel.
    Â»Aber wo, aber wann?« fragte er.
    Â»Eben erst, im Park. Wir sind vorbeigerudert, um unsere Reusen aufzustellen.«
    Â»Das ist ja schrecklich!« meinte der brave Bürgermeister. »Was für ein Unglück! Eine so ehrbare Frau. Aber das ist doch unmöglich, Sie müssen sich geirrt haben.«
    Â»Wir haben sie aber gesehen, Herr Bürgermeister.«
    Â»Solch ein Verbrechen in meiner Gemeinde! Doch habt ihr recht daran getan, sofort hierherzukommen, ich werde mich gleich anziehen, und dann gehen wir zusammen... Daß heißt nein, warten Sie.«
    Er schien eine Minute zu überlegen, dann rief er: »Baptiste!«
    Der Bedienstete war nicht weit. Abwechselnd Ohr und Auge ans Schlüsselloch pressend, hörte und sah er mit all seinen Sinnen. Beim Ruf seines Meisters brauchte er nur den Arm auszustrecken und die Tür zu öffnen.
    Â»Monsieur haben mich gerufen?«
    Â»Lauf zum Friedensrichter«, sagte der Bürgermeister zu ihm, »und zwar so schnell wie möglich, es handelt sich um ein Verbrechen, um einen Mord vielleicht, er soll kommen, schnell kommen... Und ihr«, wandte er sich an die beiden Bertaud, »wartet hier auf mich. Ich zieh mir nur schnell etwas über.«
    Der Friedensrichter von Orcival, Vater Plantat, wie er genannt wird, ist ein ehemaliger Rechtsanwalt aus Melun.
    Als er fünfzig war, verlor , dem immer alles nach Wunsch gegangen war, im selben Monat seine Frau, die er vergötterte, und seine beiden Söhne, zwei charmante Jungen im Alter von achtzehn und zweiundzwanzig Jahren. Diese aufeinanderfolgenden Schicksalsschläge warfen einen Mann zu Boden, den dreißig Jahre Glück gegenüber dem Unglück wehrlos gemacht hatten. Lange Zeit fürchtete man um seinen Verstand. Schon der Anblick eines Klienten, der ihn mit seinen überaus dummen Angelegenheiten behelligte, verdroß ihn. Man wunderte sich deshalb nicht, als er seine Praxis zum halben Preis verkaufte. Er wollte sich nach Belieben in seinem Schmerz vergraben können und die Gewißheit haben, dabei nicht gestört zu werden.
    Aber die Intensität der Trauer gab sich allmählich, und er wurde nach und nach von der Krankheit der Langeweile befallen. Da wurde die Richterstelle in Orcival vakant, Vater Plantat bewarb sich darum und erhielt sie.
    Einmal Friedensrichter geworden, langweilte er sich weniger. Dieser Mann, der nichts mehr vom Leben erwartete,widmete sich mit aller Energie den tausend verschiedenen Beschwerden, mit denen er sich auseinanderzusetzen hatte. Er widmete seine ganze Intelligenz, all seine Lebenserfahrung nur dem einen, aus all den Lügen, die anzuhören er gezwungen war, das Falsche vom Wahren zu trennen.
    Er beharrte übrigens darauf, allein leben zu wollen, trotz der Vorhaltungen von Monsieur Courtois; er redete sich damit heraus, daß ihn jede Gesellschaft langweile und ein unglücklicher Mann eine Zumutung für jeden anderen sei. Die Zeit, die ihm sein Amt ließ, widmete er einer unvergleichlichen Petunienzucht.
    Das Unglück verändert den Charakter, sei es zum Guten, sei es zum Schlechten; ihn hatte es offensichtlich furchtbar egoistisch werden lassen. Er behauptete, sich nicht mehr für die alltäglichen Dinge des Lebens zu interessieren; ganz so, wie ein blasierter Theaterkritiker sich nicht mehr für das Geschehen auf der Bühne interessiert. Er liebte es, jedermann seine tiefe Gleichgültigkeit gegenüber allem zu zeigen und versicherte, er würde nicht einmal den Kopf drehen, falls eine vom Himmel herabregnende Feuersbrunst Paris zerstören würde. Eine Gefühlsregung suchte man vergeblich bei ihm. »Was geht mich das an!« war sein unveränderlicher Kommentar.
    So war der Mann beschaffen, der eine Viertelstunde nachdem man Baptiste losgeschickt hatte, beim Bürgermeister von Orcival eintraf.
    Vater Plantat ist groß, hager und nervös. Seine Physiognomie hat nichts Auffallendes. Er trägt das Haar kurzgeschnitten, seine unruhigen Augen scheinen immer etwas wahrzunehmen, die lange Nase ist schmal wie die Klinge eines Rasiermessers. Seit seinem Kummer hat sich der früher so feingeschnittene Mund verändert, die Unterlippehängt trübsinnig herab und verleiht ihm den trügerischen Anschein von Einfältigkeit.
    Â»Was höre ich da«, sagte er von der Tür aus, »man hat die
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