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Das verborgene Kind

Das verborgene Kind

Titel: Das verborgene Kind
Autoren: Marcia Willett
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erschaffen, weil uns etwas Wesentliches fehlt.«
    Während Matt Slough und Reading hinter sich ließ und froh war, dass der Berufsverkehr noch nicht eingesetzt hatte, fragte er sich, ob das für alle Autoren von fiktionalen Werken gelte. Er selbst fühlte sich nur wirklich lebendig, wenn er Wörter niederschrieb, arrangierte und wieder umstellte. Er brauchte die Hektik des Großstadtlebens, damit seine Ideen sprudelten; er musste die vorbeieilenden Menschen beobachten oder in Cafés oder Pubs sitzen. Im Gegensatz zu Imogen hatte Matt sich nie an das Landleben gewöhnt. Oh, er fuhr gern nach High House hinunter, aber selbst als Kind hatte er sich weder für Pferde, für die Jagd noch für Hunde begeistern können, Leidenschaften, die Im sich bereitwillig zu eigen gemacht hatte. Nach ihrem Schulabschluss hatte sie mit Pferden gearbeitet, und es passte vollkommen zu ihr, dass sie sich in einen Tierarzt verliebt und ihn geheiratet hatte.
    Matt konnte Jules gut leiden. Er war ein offener, unkomplizierter Bursche, und es war klar, dass er und Im ideal zusammenpassten. Sogar ihr Baby war ein friedliches Kind. Dennoch beneidete Matt seine Schwester nicht um ihr häusliches Glück. Er fürchtete sich vor solch einer festen Bindung und war sich bewusst, dass seine Dämonen jemand anderem das Leben unerträglich machen könnten. Sofort dachte er an Annabel. Er hatte ihr eine SMS geschickt – eine feige Taktik – und ihr erklärt, er werde für ein paar Tage verreisen; er hatte die Enttäuschung in ihrer Stimme nicht hören wollen. Schließlich befand sich ihre Beziehung noch nicht in einem Stadium, in dem er Annabel in seine Pläne einbeziehen müsste. Die Freundschaft war immer noch ziemlich unverbindlich. Er wusste allerdings sehr gut, dass sie sich wünschte, es würde viel mehr daraus, und dass sie auf eine Konfrontation zusteuerten, die jederzeit stattfinden konnte.
    Diese Tage werden mir Gelegenheit geben, alles sorgfältig zu überdenken, sagte er sich – und schnaubte verächtlich, weil er sich selbst etwas vormachte. Annabel war hübsch und lustig und kannte seinen Status, weil sie in der Marketingabteilung eines großen Verlags arbeitete. Sie zeigte sich auf ziemlich schmeichelhafte Art von seinem Erfolg beeindruckt. Trotzdem war das Problem, dass er nichts von der Leidenschaft und Sehnsucht empfand, die seiner Meinung nach zum Verliebtsein gehören sollten.
    »Du bist zu abgehoben«, erklärten ihm seine männlichen Freunde. »Zu analytisch. Du denkst zu viel. Trink ein paar Gläser, und entspann dich, und den Rest übernimmt sie dann schon!«
    Vielleicht hatten sie ja recht, und er erwartete zu viel. Vielleicht sollte er Annabel geben, was sie wollte, und vielleicht würde sich danach auch die Liebe einstellen. Nur, wenn das nicht geschähe ... was dann?
    In Leigh Delamere fuhr er ab, um bei Costa einen Kaffee zu trinken. Das Café war gut besucht, aber er fand einen Ecktisch, von dem aus er die anderen Gäste beobachten konnte. Ein Paar mittleren Alters unterhielt sich ernsthaft mit besorgter Miene. Eine junge Frau, die eine SMS abrief, warf ihm einen Blick zu, lächelte verhalten und schaute wieder weg. Hinter ihr saß ein Mann, der von der Zeitung, die er las, beinahe vollkommen verdeckt wurde. Matt hätte sich für jeden von ihnen eine kleine Geschichte ausdenken können, aber bevor er damit anfangen konnte, streckte die Frau mittleren Alters in einer dramatischen Verzweiflungsgeste die Hände aus.
    »Was sollen wir nur tun ?«, hörte er sie sagen. Ihr Begleiter rückte auf dem Stuhl nach hinten und biss sich auf die Lippen.
    Matt trank von seinem Kaffee, während er im Kopf verschiedene Szenarien entwarf: Vielleicht waren sie Liebende, die sich verstohlen trafen, und sie hatte genug von der Heimlichtuerei und hoffte, ihn zu einer Entscheidung zu bewegen. Wieder sah er die beiden an. Keiner von ihnen war schick gekleidet, und sie erweckten auch nicht den Eindruck, sich besondere Mühe mit ihrem Äußeren gegeben zu haben; also waren sie vielleicht doch kein Liebespaar. Vielleicht hatten sie ja ein erwachsenes Kind, das eine schwierige Phase durchmachte, zum Beispiel eine Scheidung, und sie sorgten sich um ihre Enkel. Oder die Sache hatte mit einem pflegebedürftigen Elternteil zu tun. Sofort dachte er an die eigene Mutter und die Trauer, die ihr das ganze Leben verleidet hatte. Es erschien unfassbar, dass sie tot war; ihre gesamte Existenz war von einer solchen Hoffnungslosigkeit erfüllt gewesen, dass sie
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