Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Unsterblichkeitsprogramm

Das Unsterblichkeitsprogramm

Titel: Das Unsterblichkeitsprogramm
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
und steckte zwei Finger hinein. In der Wunde spürte ich die rauen Ränder zersplitterter Knochen und an der Seite eine pulsierende Membran. Die Kugel hatte mein Herz verfehlt. Ich grunzte und wollte aufstehen, aber das Grunzen wurde zu einem Husten, und ich schmeckte Blut auf der Zunge.
    »Nicht bewegen, Arschloch!«
    Der Schrei kam aus einer jungen Kehle und war vor Schock stark verzerrt. Ich kauerte mich über meiner Wunde zusammen und blickte mich über die Schulter um. Hinter mir in der Tür stand ein junger Mann in Polizeiuniform und hielt mit beiden Händen die Pistole, mit der er soeben auf mich geschossen hatte. Er zitterte sichtlich. Wieder hustete ich und wandte mich dem Tisch zu.
    Die Smith & Wesson lag auf Augenhöhe, sie glänzte silbrig und war immer noch dort, wo ich sie vor weniger als zwei Minuten zurückgelassen hatte. Vielleicht war es das, was mich antrieb – die dürftigen Späne der Zeit, die abgehobelt worden waren, seit Sarah gelebt hatte und alles in Ordnung gewesen war. Vor weniger als zwei Minuten hätte ich die Waffe aufheben können, ich hatte sogar daran gedacht, es zu tun – warum sollte ich es jetzt also nicht tun? Ich knirschte mit den Zähnen, drückte die Finger fester ins Loch in meiner Brust und erhob mich auf wackligen Beinen. Blut lief warm meine Kehle hinunter. Ich hielt mich mit der freien Hand an der Tischkante fest und sammelte meine Kräfte, während ich mich zum Polizisten umschaute. Ich spürte, wie sich meine Lippen von den zusammengebissenen Zähnen zurückzogen und sich zu etwas verzerrten, das eher eine Grimasse als ein Grinsen war.
    »Zwingen Sie mich nicht, es zu tun, Kovacs.«
    Ich schob mich einen Schritt näher an den Tisch heran und stützte mich mit den Beinen daran ab. Mein Atem pfiff durch die Zähne und drang blubbernd durch die Kehle. Die Smith & Wesson glänzte wie Katzengold auf dem zerkratzten Holz. Draußen im Reach fuhr Energie von einem Orbital herab und tauchte die Küche in blaues Licht. Ich hörte, wie der Mahlstrom rief.
    »Ich sagte…«
    Ich schloss die Augen und griff nach der Waffe auf dem Tisch.



 
1
     
     
    Von den Toten zurückzukehren kann hart sein.
    Beim Envoy Corps lernt man, dass man loslassen muss, bevor man eingelagert wird. Auf neutral schalten und sich treiben lassen. Das war die erste Lektion, die die Ausbilder einem von Tag eins an eintrichterten. Virginia Vidaura mit den harten Augen und dem Körper einer Tänzerin im formlosen Overall des Corps, wie sie im Einweisungsraum vor uns auf und ab ging. Macht euch wegen nichts Sorgen, sagte sie, dann werdet ihr auf alles vorbereitet sein. Ein Jahrzehnt später traf ich sie wieder, in einem Arrestbunker der Vollzugsanstalt New Kanagawa. Sie sollte für ein Jahrhundert auf achtzig gehen, wegen exzessiven bewaffneten Raubüberfalls mit organischen Defekten. Das Letzte, was sie zu mir sagte, als man sie aus der Zelle holte, war: »Mach dir keine Sorgen, junge, sie speichern alles.« Dann beugte sie den Kopf, um sich eine Zigarette anzuzünden, sog den Rauch in Lungen, die ihr nun scheißegal geworden waren, und marschierte den Korridor entlang, als wäre sie zu einer langweiligen Besprechung unterwegs. Im schmalen Sichtfeld, das die Zellentür mir gestattete, beobachtete ich ihre stolze Haltung und sprach flüsternd ihre Worte wie ein Mantra nach.
    Mach dir keine Sorgen, Junge, sie speichern alles. Ein wunderbar doppelsinniges Beispiel elementarer Weisheiten. Das trostlose Vertrauen in die Effizienz des Strafvollzugsystems und eine Anspielung auf den flüchtigen Geisteszustand, den man benötigt, um die Klippen der Psychose zu umschiffen. Ganz gleich, was du fühlst, was du denkst, was du bist, wenn du eingelagert wirst – genauso wirst du sein, wenn du wieder herauskommst. Bei Angstzuständen kann das zu einem Problem werden. Also lässt man los. Schaltet auf neutral. Entspannt sich und lässt sich treiben.
    Wenn man die Zeit dazu findet.
    Ich tauchte wild um mich schlagend aus dem Tank auf. Eine Hand klebte auf meiner Brust und suchte nach Verletzungen, die andere klammerte sich um eine nicht vorhandene Waffe. Die Schwerkraft war wie ein Hammerschlag und ließ mich platschend ins Schwimmgel zurückfallen. Ich schlug mit den Armen um mich, stieß mit einem Ellbogen gegen die Tankwand und keuchte vor Schmerz auf. Gelklumpen drangen mir in den Mund und in die Kehle. Ich schloss den Mund und bekam den Rand des Tanks zu fassen, aber das Zeug war einfach überall. Es brannte mir in
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher