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Das Unsterblichkeitsprogramm

Das Unsterblichkeitsprogramm

Titel: Das Unsterblichkeitsprogramm
Autoren: authors_sort
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lag ein ordentlich zusammengefalteter Sommeranzug auf der Bank, und in die Wand war ein Spiegel eingelassen. Auf der Kleidung hatte man eine einfache Armbanduhr aus Stahl und einen weißen Umschlag deponiert, auf dem mein Name geschrieben stand. Ich atmete tief durch und stellte mich dem, was der Spiegel mir zeigen würde.
    Das war jedes Mal der schwierigste Moment. Obwohl ich es schon seit zwei Jahrzehnten machte, versetzte es mir immer wieder einen Schock, wenn ich plötzlich das Gesicht eines Fremden erblickte. Es war, als würde man ein Bild aus den Tiefen eines Autostereogramms hervorziehen. In den ersten Momenten sah man nur jemanden, der in einem Fensterrahmen stand und einen betrachtete. Dann verschob sich die Wahrnehmung und man spürte, wie man den Raum hinter der Maske ausfüllte und an die Innenseite gepresst wurde, was ein beinahe körperlich spürbares Schockerlebnis war. Als hätte jemand eine Nabelschnur zerschnitten, nur dass nicht zwei Menschen voneinander getrennt wurden; es war die Andersartigkeit, die abgeschnitten wurde, bis man erkannte, dass man sein eigenes Spiegelbild betrachtete.
    Ich stand vor dem Spiegel und rieb mich mit dem Handtuch trocken, während ich mich an das Gesicht zu gewöhnen versuchte. Der Körper hatte weiße Hautfarbe, was für mich etwas Neues war, und mein nachhaltigster Eindruck war der, dass dieser Sleeve niemals den Weg des geringsten Widerstands gegangen war. Selbst mit der charakteristischen Blässe eines längeren Aufenthalts im Tank wirkten die Gesichtszüge wettergegerbt. Überall waren Falten. Das dicke, kurz geschnittene Haar war schwarz mit grauen Einsprengseln. Die Augen hatten einen nachdenklichen Blauton, und über dem linken war eine schwache gezackte Narbe. Ich hob den linken Unterarm und betrachtete die Geschichte, die darauf niedergeschrieben war. Ob beide etwas miteinander zu tun hatten?
    Der Umschlag unter der Armbanduhr enthielt ein einzelnes Blatt bedruckten Papiers. Handsigniert. Sehr originell.
    Tja, du bist jetzt auf der Erde. Der ältesten aller zivilisierten Welten. Ich zuckte die Achseln und überflog den Brief, dann zog ich mich an und steckte ihn zusammengefaltet in die Jacke meines neuen Anzugs. Mit einem letzten Blick in den Spiegel legte ich die Armbanduhr an und machte mich auf den Weg zur Polizei.
    Es war vier Uhr fünfzehn Ortszeit.
     
    Die Ärztin erwartete mich bereits. Sie saß hinter einem langen gekrümmten Empfangstisch und füllte am Monitor Formulare aus. Ein hagerer, ernst wirkender, in Schwarz gekleideter Mann stand neben ihr. Sonst befand sich niemand in diesem Raum.
    Ich schaute mich um und sah dann wieder den Mann an.
    »Sind Sie von der Polizei?«
    »Draußen.« Er deutete auf die Tür. »Hier hat sie keine Jurisdiktion. Sie kommt nur auf speziellen Antrag rein. Wir haben unsere eigenen Sicherheitskräfte.«
    »Und Sie sind…?«
    Er sah mich mit der gleichen Mischung verschiedener Gefühle an, die die Ärztin mir ein Stockwerk tiefer entgegengebracht hatte. »Direktor Sullivan, der Leiter von Bay City Central, der Einrichtung, die Sie in Kürze verlassen werden.«
    »Das klingt nicht so, als wären sie froh, mich endlich loszuwerden.«
    Sullivan bedachte mich mit einem durchdringenden Blick. »Sie sind ein Rückfälliger, Kovacs. Ich habe noch nie eingesehen, warum man gutes Fleisch und Blut für Leute wie Sie verschwenden sollte.«
    Ich legte die Hand auf den Brief in der Brusttasche meiner Jacke. »Also kann ich von Glück reden, dass Mr. Bancroft nicht Ihrer Meinung ist. Er wollte mir einen Wagen schicken. Wartet der ebenfalls draußen?«
    »Ich habe nicht nachgesehen.«
    Vom Empfangstisch war ein Protokollsignal zu hören. Die Ärztin war mit der Dateneingabe fertig. Sie riss den Ausdruck ab, initialisierte ihn an mehreren Stellen und reichte ihn an Sullivan weiter. Der Direktor beugte sich über das Dokument, überflog es mit leicht zusammengekniffenen Augen und kritzelte schließlich seine Unterschrift darauf, bevor er es mir gab.
    »Takeshi Lev Kovacs«, sagte er und sprach meinen Namen genauso falsch aus wie sein Untergebener im Tankraum. »Kraft der mir durch das UN-Justizabkommen verliehenen Macht entlasse ich Sie in die Bewährung und die Obhut von Laurens J. Bancroft. Die Leasingdauer beträgt maximal sechs Wochen. Danach wird neu über Ihren Bewährungsstatus verhandelt. Bitte unterschreiben Sie hier.«
    Ich nahm den Stift und setzte meinen Namen in fremder Handschrift neben den Finger des Direktors.
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